Folia Theologica 2. (1991)

Peter Henrici: Kann es heute eine christliche Kultur geben?

CHRISTLICHE KULTUR 69 genuin christlich, weil er den Aristotelismus im Licht des christlichen Schöpfungsglaubens aus einer Philosophie des Seienden zu einer Philo­sophie des Seinsaktes umformt. Die altchristliche und die mittelalterliche Philosophie zeigen uns so zwei verschiedene Modelle christlicher Philosophie, die auch zwei Modelle christlicher Kultur sind: das Modell der umdeutenden Übernahme und das Modell der Neugestaltung des Übernommenen. Das erste Modell finden wir beispielsweise auch zu Beginn der christlichen Kunst, wenn heidnis­che Motive einfach umgedeutet werden, so dass aus dem Hermes Krio- phoros eine Statue des guten Hirten und aus der Sitzfigur eines Philosop­hen ein thronender Petrus wird. Das zweite Modell wird später in der Weiterentwicklung der Basilika zur romanischen Kirche und der antiken Malerei zur byzantinischen und zur Ikonenkunst sichtbar. Beide Modelle werden wohl nacheinander ins Werk gesetzt, wenn nichtchristliches Den­ken und eine nichtchristliche Kultur „evangelisiert” werden sollen. 2. Beide Modelle aber lassen sich leider nicht auf die Begegnung des Christentums mit der neuzeitlichen europäischen Kultur und Philosophie anwenden. Denn diese Philosophie und diese Kultur sind bereits christlich, oder vielleicht eher nach-christlich, aus christlichen Wurzeln entsprungen und nur von ihnen aus zu erklären. Bei dieser neuzeitlichen Kulturwerdung des Christentums (die im Endeffekt eine Verkultivierung des Glaubens war) hat nun die christliche Philosophie eine grundlegende Rolle gespielt. Die Kultur der europäischen Neuzeit ist vielleicht die einzige Kultur, die aus dem Geist einer Philosophie entsprungen ist und auf ihr aufbaut und diese Philosophie war eine ursprünglich christliche, nicht bloss eine nacht­räglich verchristlichte Philosophie: der Nominalismus des späten Mittel­alters. a) Es war lange Zeit Mode, den Nominalismus philosophisch zu verket­zern, als sei er von der Höhe der hochmittelalterlichen thomistischen Metaphysik abgefallen. Heute scheint umgekehrt der Nominalismus in Mode gekommen zu sein, und zwar als Vorläufer der angelsächsischen Sprachphilosophie. Beide Auffassungen werden dem Wesen des Nomina­lismus nicht gerecht. Tatsächlich ist der Nominalismus eine spezifisch christliche Philosophie — oder, sofern es auch im arabischen Raum eine Art Nominalismus gibt, eine offenbarungstheologische Philosophie. Seine christliche Herkunft wird an zwei Grundlehren des Nominalismus beson-

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