Folia Theologica 2. (1991)

Peter Henrici: Kann es heute eine christliche Kultur geben?

70 P. HENRICI ders deutlich an seiner Aufwertung des Einzelnen und an seinem radikalen Voluntarismus. Während das antike Denken nach allgemeinen Wesenheiten, nach dem überall und immer Gleichen fragte, stellt der Nominalismus das unver­wechselbare Individuum in den Mittelpunkt seines Denkens. Das Einzelne ist für ihn die ontologische Grundgegebenheit — und wenn wir „der Einzelne” im Maskulin sagen, dann gibt dieses kierkegaard’sche Kenn­wort auch den Hinweis auf die christliche Verwurzelung des Nominalis­mus. Gott liebt und will diesen Einzelnen (und dieses Einzelne) — das ist der Kern der christlichen Botschaft, und darin gründet auch der zweite Grundzug der nominalistischen Schöpfungsontologie. Gott wird nicht sosehr als Urbild der Welt gesehen (wie es die antike Partizipations- und damit Emanationsontologie tut), sondern als Jener, der aus freiem Willens­entschluss die Weltdinge geschaffen und sie so geschaffen hat, wie jedes von ihnen nun einmal ist. Gottes freier Wille ist jedoch für uns schlechthin unerkennbar, und so betont der Nominalismus auch die Verborgenheit Gottes — den „Deus absconditus” der lutherischen Theologie. Hier mag ein Ansatzpunkt für den tendentiellen Atheismus der neuzeitlichen Welt­anschauung liegen; wichtiger sind jedoch die Folgerungen, die sich für die Auffassung der Weltdinge selbst ergeben. Die Welt erscheint dem Nominalisten nicht mehr als ein wohlgeordnetes Ganzes, als ein Kosmos, dessen Sinn zuerkunden wäre, sondern als eine Ansammlung von Weltdingen, von Einzelfakten von dem, „was der Fall ist”, wie Wittgenstein sagt.6 Der einzige gemeinsame Wesenszug all dieer Fakten ist eben, dass sie „facta”, etwas (von Gott) gemachtes sind — und damit grundsätzlich auch etwas Machbares. So fordert die schöpfungson­tologische gesehene Natur nicht mehr das Staunen des Menschen heraus (bestenfalls noch sein Staunen über einen derart wirkmächtigen Schöpfer), sondern das eigene menschliche Machenkönnen. Ja, das menschliche „Machen” erscheint geradezu als notwendige Vervollständigung der Schöpfertätigkeit Gottes. Den Gott hat den Einzeldingen wohl bestimmte Möglichkeiten, Kräfte und damit Beziehungen untereinander eingestiftet, aber diese Beziehungen müssen erst durch menschliches Machenkönnen herausgestellt und verwirklicht werden. Erst im wissenschaftlichen „Welt­bild” des Menschen erweist sich die Welt als sinnvolels Ganzes, und erst 6 L. WITTGENSTEIN, Tractatus logico-philosophicus 1.1: „Die Welt ist alles, was der Fall ist”.

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