Folia Theologica 2. (1991)
Peter Henrici: Kann es heute eine christliche Kultur geben?
CHRISTLICHE KULTUR 65 dig zu sein oder, besser gesagt, das Christentum selbst nimmt wenigstens eine grundlegende Kulturfunktion wahr: Es konkretisiert, in einer gegebenen Situation, Werte. Viele der Werte, die gerade wir Christen gerne als schlechthin menschliche Werte ausgeben, sind vielleicht erst im Licht der christlichen Botschaft in ihrer Werthaftigkeit zu erkennen: die Unauflöslichkeit und Ausschliesslichkeit der Ehe, die absolute Unantastbarkeit der Menschenwürde in jedem auch dem marginalisierten Menschen, die Achtung vor dem menschlichen Leben auch in Grenzsituationen, usf. Wir sollten in solchen Fällen vielleicht nicht allzu unkritisch einfach auf das Naturgesetz rekurrieren, sondern schlicht anerkennen, dass auch das Naturgesetz der christlichen Inkulturation bedarf. 3. Und doch erhebt sich gegen die Forderung nach einer christlichen Kultur nochmals ein doppelter Einwand: vom Christentum und von der Kultur aus. a) Vom Christentum aus kann die Forderung nach einer christilichen Kultur als Gefahr einer Verweltlichung des Christentums erscheinen. Man schätzt das Evangelium nicht mehr als Botschaft von Jesus Christus, sondern wegen seiner kulturtragenden und kulturstiftenden Funktion. Dieser Gefahr ist zu Anfang dieses Jahrhunderts der Kulturprotestantismus eines Ernst Troeltsch erlegen. Da sich für ihn die Glaubensfunktion des Protestantismus weitgehend entleert hat, rühmt er dagegen seine Kulturfunktion. Wie Hermann Lübbe zusammenfasst: „Im Kulturprotestantismus kultiviert der Protestantismus sein eigenes Andenken. Angesichts seiner Säkularisierungsgeschichte rühmt er den kulturellen Reichtum, der durch diese Geschichte an die Gegenwart kam, und rühmt sich selber darin".2 Gerade dagegen richtet sich der Protest der dialektischen Theologie eines Karls Barth und Friedrich Gogarten. Sie bekämpft mit Vehemenz „die Neigung des Glaubens und der Kirche, sich als religiöses Ferment [der Welt] zur Funktion der Kultur zu machen”.3 Auf katholischer Seite hat auf dem Konzil aus ganz anderer Sicht Kardinal Lercaro in einer berühmten Rede ähnliche Befürchtungen ausgesprochen. Er warnt vor dem Reichtum, den das Kulturschaffen mit sich bringt und 2 H. LÜBBE , Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs, München 1965, S. 82. 3 Ebd., S. 100.