Folia Theologica 2. (1991)

Peter Henrici: Kann es heute eine christliche Kultur geben?

64 P. HENRICI Werte sind keine freisehwebenden, immer schon geltenden Wesenheiten; wertvoll wird etwas erst, indem es für etwas oder für jemand gut ist.1 Anders gewendet: Während sich der Unwert (dh. das sicher nicht Zulässi­ge oder nicht Wünschenswerte) sozusagen a priori ausmachen lässt — weil schon der Widerspruch zu ganz allgemeinen Bestimmungen, wie dem Menschsein, der Freiheit, der Wahrheit, der Harmonie, usf. einen Unwert konstituiert —, gibt es den Wert erst in einem ganz bestimmten konkreten Bezug und Zusammenhang. Diese Linie in diesem Gemälde ist in dieser Farbkomposition — für diesen ästhetischen Geschmack! — schön, oder diese Entscheidung ist unter diesen Umständen und in diesem gesellschaft­lich-kulturellen Kontext gut, usf. So ist die Philosophie seit jeher auf die Suche gegangen nach einem konstitutiven Bezugssystem für die Werte, und sie hat diese entweder im wertbeurteilenden Subjekt gefunden (im Gewissen, in der Vernunft, im Geschmack, im scheler’schen Wertfühlen...), oder aber in einem äusseren Kontext, der so weit und so objektiv wie möglich gefasst wurde: in der Naturordnung, im Gotttesgesetz, in der Menschennatur... Inzwischen ist jedoch deutlich geworden, dass die subjektiven Bezugssysteme immer kulturell mitbedingt sind; aber auch der äussere Kontext ist niemals kulturunabhängig. Natur und Gottesgesetz sind immer schon das kulturell ausgelegte und verstandene Natur- und Gottesgesetz; erst so sind sie Sinnträger und damit mögliches Bezugssystem für die Bestimmung von Werten. Das gilt auch (ja vor allem) von der „Menschen-natur”, die oft als Norm für die sittlichen, aber auch für die sozialen, politischen, ökonomi­schen Werte angegeben wird. Es handelt sich da sicher nicht um die bloss biologische, die sozusagen „naturhafte” Natur des Menschen, die der Mensch mit dem Tier teilt, sondern um seine spezifisch menschliche Leib-Geist-Natur, die ihrem Wesen gemäss immer schon von Bildung und Sitte und somit von Kultur philosophisch nach der Aufgabe definieren, in der sie unvertretbar ist: Kultur ist das Bezugssystem für die Bestimmung von Werten. Wenn dem so ist, dann scheint eine wenigstens minimal christliche Kultur für das christliche Leben nicht nur wünschenswert, sondern sogar notwen­1 Bei diesem „für” ist die feine Grenzlinie zu beachten zwischen zwei nah beieinanderliegenden Extremen: dass sich der Wert zum freischwebenden Ideal verflüchtigt (wenn er nicht mehr bonum im Sinn von perfectum wäre) oder dass er absinkt in platte Nützlichkeit.

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