Folia Theologica 2. (1991)
Peter Henrici: Kann es heute eine christliche Kultur geben?
CHRISTLICHE KULTUR 63 1. Dass es so etwas wie „christliche Kultur” überhaupt geben kann, scheint unzweifelhaft: es hat in der Geschichte Kulturen gegeben, die wir nicht anders denn als „christlich” bezeichnen können. Hier in Ungarn, wie im ganzen nördlichen Europa, sind die Christianisierung und eine Neu- oder Umkultivierung Hand in Hand gegangen. Historiker mögen allerdings skeptisch fragen, wie tief diese Christianisierung gegangen sei, und das heisst genau: wie tief das Christentum die Kultur(en) dieser Völker umzugestalten vermocht hat, oder ob die so zu nennende „christliche Kultur” nur ein gewisser „ober-flächlicher Anstrich” war und vielleicht nur die Oberschichten erfasst hat. Gleichviel: in gewisser Hinsicht und mit gewissen Einschränkungen können und müssen wir von einer christlichen Kultur sprechen. 2. Dass eine christliche Kultur grundsätzlich (und deshalb auch heute) wünschenswert ist, ergibt sich aus dem Wesen der Kultur. Bei diesem Punkt müssen wir etwas länger verweilen. Die „Kultur” ist schwer zu definieren. Man hat über 30 verschiedene Definitionen der Kultur gesammelt, und das Konzil hat es wohlwisslich vermieden, die Kultur zu definieren und es bei einer einfachen Beschreibung bewenden lassen. Auf die Gefahr hin, eine neue, unzureichende Definition der Kultur in die Welt zu setzen, würde ich die Kultur definieren als „Umwelt, die eine Menschengruppe sich selbst schafft, um menschlich leben zu können”. Diese selbstgeschaffene, aber lebensnotwendige Umwelt hat nun eine doppelte Dimension — und die Kultur erfüllt somit eine doppelte Funktion: sie stellt, 1. mehr materiell, eine „zweite Natur ” dar und sie dient, 2. mehr geistig, der Wertvermittlung. Über die „zweite Natur” (die Kleidung, Behausung, Nahrung, Arbeitswelt, usf. umfasst) brauchen wir uns hier nicht zu unterhalten, obwohl gerade von dieser Seite hier in unserer Zeit grosse, fast unlösbare Aufgaben auf die Menschheit zukommen. Für unser Thema jedoch interessiert die Kultur vor allem als Instanz der Wertvermittlung. Was will ich damit sagen? Ich meine damit nicht nur, dass jede Kultur Werte realisiert, indem sie normative Ideen verwirklicht; auch nicht, dass sie sich in diesem Kulturschaffen an vorgängig und auf sie angewiesen: Ohne die Kultur und ausserhalb ihrer gäbe und gibt es für den Menschen gar keine Werte. Die Werte sind viel kulturabhängiger als beispielsweise die Wahrheit. Das kommt daher, dass ein Wert, um wirklich wertvoll zu sein, konkret sein muss.