Folia Theologica et Canonica 11. 33/25 (2022)
Sacra theologia
DENKEN DES UNÜBERTREFFLICHEN - DIE ZWEIFACHE NORMATIVITÄT...77 Transzendenz,33 vollkommene Unbedürftigkeit, mithin Selbstbestimmung,34 Identität von Existenz und Essenz35 und nicht zuletzt die Geistnatur und deren vollkommenes Wissen; denn es ist besser, Geist, und zwar allwissender Geist, zu sein, als keinen Geist zu besitzen.36 Anselm leitet also aus seinem ontologischen, mit der Seinsvollkommenheit argumentierenden GottesbegrifF sowohl die Geistnatur als auch die wesenhafte Einfachheit Gottes ab. Mit anderen Worten: Die vollkommene Einfachheit Gottes geht gemäß dem ontologischen Gottesbegriff aus seiner Seinsvollkommenheit hervor und nicht umgekehrt - ein Gedanke, der die Differenz zwischen Anselms Fassung des ontologischen Gottesbegriffs und dessen Vorstufen in der Geist- und Seinsmetaphysik des antiken Platonismus und spätantiken Neuplatonismus deutlich hervortreten lässt: Denn der absolute Geist ist in der platonischen, altakademischen und neuplatonischen Geistmetaphysik gegenüber dem Einen als dem Ersten Prinzip aller Wirklichkeit deshalb inferior, weil er einen geringeren, schwächeren Grad an Einheit besitzt, sofern er als die geeinte Vielheit des gesamten Ideenkosmos nicht vollkommen einfach, sondern All-Einheit ist.37 Mit dieser Interpretation des affirmativ-theologischen Gehalts von ,Q‘ ist die inhaltliche Normativität des ontologischen Gottesbegriffs allerdings noch nicht hinreichend ausgewiesen. Denn von der negativen sprachlichen Formel „etwas, über das hinaus Größeres nicht‘ (aliquid quo maius non) bzw. „nichts Größeres“ (nihil maius) „gedacht werden kann“ (cogitari potest) wird nicht nur Gottes vollkommenes Sein, sondern zugleich auch negativ-theologisch Gottes Über-Sein, d. h. seine Transzendenz über alle von einem endlichen Intellekt denkbaren begrifflichen Gehalte, ausgesagt. Der Gott des christlichen Glaubens ist zwar das für jeden geschaffenen Intellekt denkbar Größte, d. h. der Inbegriff aller von ihm prinzipiell denkbaren Seinsvollkommenheiten - dies bezeichnet der affirmativ-theologische Begriffsgehalt von ,Q‘; darüber hinaus aber muss der christliche Gott gerade als das für uns denkbar Größte zugleich größer, und zwar unendlich größer, sein als von uns, genauer als von einem endlichen Intellekt, überhaupt gedacht werden kann.38 Denn es liegt im natürlichen Vermögen des endlichen Intellekts, sich gleichsam fiktiv etwas als 33 In den Kapiteln 19 und 20 des Proslogion zeigt Anselm, dass alles Geschaffene in Gott enthalten ist, d.h. von ihm erhalten wird (Prosl. 19) und dass er alle, auch die ohne Ende existierenden Entitäten (wie etwa die Engel) transzendiert {Prosl. 20). 34 Vgl. Anselm von Canterbury, Prosl. 22,1 117,1 f. 35 Die Identität von Dass- und Was-Sein Gottes schließt Anselm aus der wesenhaften Einfachheit und zeitfreien Gegenwart Gottes, vgl. Prosl. 22,1 116,15. 36 Vgl. Anselm von Canterbury, Prosl. 6,1 104,24f. 37 Zur platonischen und zur altakademischen Geistmetaphysik vgl. vor allem Krämer, H. J., Der Ursprung der Geistmetaphysik', zu Plotins Begriff des absoluten Geistes vgl. auch Beierwaltes, W., Das wahre Selbst, insb. 16-30. Halfwassen, J., Der Aufstieg zum Einen, 130-149; ders. Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 328-365. 38 Vgl. hierzu Anselm von Canterbury, Prosl. 15,1112, 14-17.