Folia Theologica et Canonica 11. 33/25 (2022)
Sacra theologia
76 MARKUS ENDERS adaptierten Gestalt konnte der neuplatonische Seinsbegriff zu einer unmittelbaren Voraussetzung für Anselms ,ontologischen Gottesbegriff4 werden. 2. Die inhaltliche Normativität des ,ontologischen Gottesbegriffs‘ (=, Q ): Der affirmativ-theologische und der negativ-theologische Gehalt von ,Q‘ Anselm ersetzt ab dem fünften Kapitel seines Proslogion bei seiner Wiedergabe des ontologischen Gottesbegriffs, den wir im Folgenden mit dem Großbuchstaben ,Q‘ abgekürzt wiedergeben, den lateinischen Komparativ ,maius‘ durch den lateinischen Komparativ ,melius‘, versteht also Gott zugleich als etwas, über das hinaus Besseres von einem (geschaffenen) Intellekt widerspruchsfrei nicht einmal gedacht werden kann.24 Daher bezeichnet ,Q‘ die Gesamtheit der göttlichen Seinsvollkommenheiten, zu denen nicht nur die drei im Denken der Griechen entwickelten klassischen Gottesprädikate der (vollkommenen) Macht, Weisheit und Güte (des Willens), sondern auch die der realen und die der seinsnotwendigen, d. h. die nur als real denkbaren bzw. möglichen, Existenz gehören und die als Wesensbestimmungen des wesenhaft einfachen Gottes in einem widerspruchsfreien Verhältnis zueinander stehen müssen. Diese Seinsvollkommenheiten Gottes werden in den Kapiteln 5 bis 23 des Proslogion aus ,Q‘ insofern abgeleitet, als ,Q‘ vorschreibt, Gott alle jene Bestimmungen zuzusprechen, deren Besitz ihren Träger im Sein besser macht als ihr Nicht-Besitz. Dies aber sind im Einzelnen: Gerechtigkeit und zugleich Barmherzigkeit,25 ferner Wahrhaftigkeit, Glückseligkeit,26 Allmacht, Leidensunfähigkeit und damit Körperlosigkeit,27 Lebendigkeit, ja das Leben selbst zu sein, ferner höchste Güte,28 Ewigkeit als zeitfreie Gegenwart und damit als Nicht-Übergänglichkeit,29 folglich auch Unbegrenztheit im Sinne von zeit- und ortloser Allgegenwart;30 höchste Schönheit,31 immanente Ungeteiltheit, d. h. vollkommene Einfachheit des Wesens,32 universelle Immanenz und 24 Vgl. Anselm von Canterbury, Prosi. 5,1 104,14f. 25 Vgl. hierzu die Kapitel 9 bis 11 des Proslogion. 26 Vgl. Anselm von Canterbury, Prosi. 5,1 104,15ff. 27 Vgl. ebd., 6,1 104,20-25. 28 Vgl. hierzu ebd., 12,1 110,5-8. Anselm will hier vor allem zeigen, dass alle göttlichen Eigenschaften Wesensbestimmungen Gottes und damit keine Akzidentien sind. 29 Vgl. ebd., 13,1 110,12-18, insb. 17f.; 19,1 115,6-15. 30 Vgl. ebd., 13,1 110,12-15. Zur Geschichte der Gottesprädikate der Allgegenwart und Unendlichkeit in der lateinischen Patristik, bei Boethius und Eriugena bis einschließlich ihrer Erörterung in Anselms ,Proslogion' sowie in seiner Kontroverse mit Gaunilo vgl. Enders, M., Allgegenwart und Unendlichkeit Gottes, 19—49. 31 Vgl. Anselm von Canterbury, Prosi. 17,1 113,6-15. 32 Anselm leitet auch die immanente Teillosigkeit bzw. Einfachheit des Wesens Gottes aus dessen unübertrefflicher Seinsvollkommenheit ab, vgl. ders.: Prosl. 18,1 114,17-115,4.