Folia Theologica et Canonica 11. 33/25 (2022)

Sacra theologia

56 BORIS WANDRUSZKA zu tragen und zu halten, müssen also selbst wirklich sein. Damit aber geraten wir in ein Dilemma, da bekanntlich alles, was die uns bekannte Wirklichkeit darbietet, fragil, vergänglich, um mit Platon (428 bis 348 v. Chr.) zu reden, nur halbseiend (bzw. weniger seiend)3 ist. Und eben so ist es offensichtlich, dass die Welt, wie sie uns nach Immanuel Kant (1724 bis 1804) erscheint, kein fundamentum inconcussum, keinen letztendlich tragfähigen Wertsinn bzw. Sinnwert vorhält, sondern selbst durch und durch erschütterbar, prekär, vor­läufig und brüchig ist. I. Zwei Transzendierungen Die Geistesgeschichte lehrt, dass es zwei Motive gibt, über diese prekäre Wirk­lichkeit hinauszufragen. Der eine Teil der Menschen ist in einem solchen Maße von dem Unheilszustand der Welt, vor allem der menschlichen Welt, erschüttert, dass er nicht anders kann, als Wege zu suchen, die über sie hinaus­führen und sie, die unheile Welt, als etwas Vorläufiges erweisen, hinter dem eine letzte, dann auch unerschütterliche Wirklichkeit steht, die sozusagen „ganz und gar richtig“ ist und der wir uns ganz und gar anvertrauen dürfen. Der andere Teil der Menschen erschaut im Vorläufigen, in den Erscheinungen der Welt selbst, solche Spuren, Aspekte, Zeichen, Strukturzüge, denen sozusa­gen ein absoluter Koeffizient eigen ist, und deuten sie als das Vorleuchten einer vollkommenen, urguten und urschönen Wirklichkeit schon im Hiesigen.4 Platon, der ein solch großer intuitiver Erschauer war, zählte z. B. die mathe­matischen Strukturen der Welt hierzu, aber auch ihre sonstigen Schönheiten, dann das Gute, wie es sich etwa in seinem Lehrer Sokrates manifestierte, und vor allem die idealtypischen Musterbildungen der empirischen Wirklichkeit, die „Ideen“, z. B. die reine Pferdheit, das perfekte Werkzeug usw., die ihm wie Fenster bzw. Ikonen in die transzendente Region des Göttlichen waren. Hier wurde die problematische Welt selbst schon transparent auf eine in sich voll­kommene Welt hin. II. Die Philosophie Der Philosoph als Denker des Prinzipiellen kann nun wie Parmenides, Plotin oder Spinoza solch ein intuitiver, das Absolute direkt gewahrender Erschauer, 3 Vgl. zum „ontologischen Komparativ" bei Platon, Dialog: Staat, 7. Buch, Höhlengleichnis (mallon on). 4 Zu solchen Spuren des Absoluten, also des Unendlichen im Endlichen, des Unbedingten im Bedingten, gehören etwa die mathematischen und logischen Grundwahrheiten, weiter die ethi­schen, poietischen und religiösen Grundwerte.

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