Folia Theologica et Canonica 4. 26/18 (2015)
SACRA THEOLOGIA - Krisztián Vincze, Die Realität und die würde des Leidens in der Philosophie von Simone Weil
112 KRISZTIÁN VINCZE muss man innehalten. Man muss ihn anschauen, man muss so an ihm handeln wie es der barmherzige Samaritaner im Evangelium tat. Wenn man für ihn Geld ausgibt, wenn man ihm etwas von sich selbst gibt ohne auf eine Gegengabe zu warten, ohne jegliches persönliche Interesse, dann nimmt man die Begrenztheit der eigenen Existenz zugunsten der unabhängigen Existenz eines anderen Menschen an.31 In diesem Fall betrachten wir uns nicht mehr als Zentrum des Universums, sondern bewahren wir unsere periphere Position, in der sich die Perspektive ergibt, aus der heraus wir den Anderen lieben und respektieren können. In diesem Fall ahmen wir Gott nach, der darauf verzichtete, alles zu sein, um anderen Seienden Platz zu geben. So nehmen wir an der Schöpfung durch unsere Dekreation teil. Gott schenkte uns die Selbstständigkeit und die Fähigkeit zum Denken, damit wir auf sie aus Liebe verzichten.32 Einen leidenden Menschen zu treffen ist wichtig, weil man bei diesen Gelegenheiten merkt, dass man fähig ist, sein Ich aufzuheben, sein Verlangen und seine Bedürfnisse zu vergessen. Im Spiegel dessen ist das Ideal der Liebe der Zustand, aus dem der Mensch nicht mehr in das Sein der Autonomie zurückfällt. Dabei geht es nicht nur um die Einklammerung unseres Ichs. sondern um die Aufzehrung des gefräßigen Seins, das man Ich nennt. Die Liebe ist in diesem Fall die vollkommene und voraussetzungslose Einwilligung in die Existenz des Anderen. Unsere Existenz muss also zugunsten der des Anderen gemindert werden. Schöpfung, Menschwerdung und Passion Christi sind die drei Aspekte des göttlichen Verzichts, durch die Gott dem Vorhandensein von anderen von Gott unterschiedenen Seienden zustimmt. Unsere Dekreation will diesem göttlichen Verzicht folgen, der die Annahme dessen ist, dass in der Materie, im Leiden auf der Erde die Notwendigkeit herrscht, in unseren Seelen aber die Freiheit.33 6. Christi Passion in der Philosophie Simone Weils Das Kreuz ist nach Simone Weil „das vollkommene Vorbild des Unglücks“,34 da der am Kreuz sterbende Christus als Schwerverbrecher betrachtet und gestraft wurde. Christus, die vollkommene Unschuld, wird in den Augen der Menschen zum Fluch. Christus wird zur Quintessenz des Leidens, da er in seinem totalen Ausgeliefertsein von Gott verlassen wurde. Sein Schrei am Kreuz und die darauffolgende Stille bilden die größte Harmonie und vollkommene Einheit. Eben in diesem Moment, in dem größten Unglück, als Gott schweigt 31 Vgl. Vető, M., Simone, 37. 32 Vgl. Vető, M., Simone, 38-39. 33 Vető, M., Simone, 50. 34 Tilliette, X., Philosophische Christologie, 269.