Folia Theologica et Canonica 1. 23/15 (2012)
SACRA THEOLOGIA - Zoltán Rokay, Leo Scheffczyk und die Tübinger Schule
92 ZOLTÁN ROKAY I. Über die Tübinger Schule Es scheint angebracht zu sein, wenigstens in groben Linien die Wesenszüge der Tübinger Schule nachzuzeichnen, sowie ihre führende Gestalten wieder in Erinnerung zu rufen. Ich tue das (wenn auch gelegentlich mit Seitenblicken unterbrechend) anhand der ebenerwähnten Publikation von Scheffcyzk aus dem Jahre 1965. II. Der geistesgeschichtliche Hintergrund Wir können das Unternehmen der Tübinger Schule und der gesamten deutschsprachigen Theologie (im gegenwärtigen Zusammenhang der katholischen) besser verstehen und beurteilen, wenn wir uns dessen bewusst sind, dass sie (mindestens) auf dem Hintergrund der Aufklärung, des Rationalismus, des Idealismus, und zum Teil der Romantik entstand, und daher zu verstehen ist. Scheffczyk spricht von der „Dürre der Aufklärung“3 und beleuchtet von da aus die ganze lebendige Bewegung als eine Reaktion auf dieselbe, obwohl sie „nachhaltig“ von so einer Persönlichkeit wie Johann Michael Sailer getragen wurde.4 3 „Dürre der Aufklärung“: der Ausdruck stammt von Scheffczyk: „aus der rationalistischen Dürre der Aufklärungsepoche (...)“ Scheffczyk, L„ Katholische Glaubenswelt, 8. Aber schon in Theologie in Aufbruch und Widerstand 1: „nach der Dürre der Aufklärungsepoche“. 4 Über Johann-Michael Sailer (1751-1832) urteilt Scheffczyk folgendermaßen: „(der befreiende Durchstoß in neue Geistesräume) gelang erst der unter dem Einfluß der Sailerschen Erweckungsbewegung der Romantik und des Idealismus neu erwachten Theologie des 19. Jh. Im Kreis um J. M. Sailer (fl 832) war aus der Verbindung der Theologie mit der allgemeinen deutschen Kultur eine Bewegung entstanden, die auf Verinnerlichung des Kirchentums und auf Überwindung der rationalistischen Erstarrung in Religion und Glaubenswissenschaft drang. Da aber Sailers Glaubens- und Kirchenbegriff, von der romantischen Idee des Lebens getragen und von Fr. H. Jacobis und Schleiermachers Gefühlsreligiosität bestimmt, zu einer Erlebnistheologie tendierte, die der transsubjektiven Wirklichkeit von Kirche und Dogma nicht vollauf gerecht wurde, reichten seine Impulse zur Begründung einer positiven wissenschaftlichen Theologie nicht aus. Das leisteten erst die Vertreter der Katholischen Tübinger Schule, die freilich in ihrer ersten Generation von Sailer nachhalüg beeinflußt waren (...) Während Sailer, obwohl er die Wahrheit von der lebendigen Tradition schon erfaßt hatte, trotzdem mit dem rationalistischen Historismus als geschichtlich nur das urchristliche Faktum und seine mechanische Überlieferung durch den Buchstaben der Schrift anerkannte (...) Wenn nämlich, wie in der rationalistischen Grundvorstellung der Aufklärung, die geschichtliche Urtatsache des Christentums nicht als lebendiger Zusammenhang und als Fortdauer begriffen wird, fehlt auch die Objektivität der unmittelbaren Anschauung an deren Platz bald die mittelbare Beschreibung und die subjektive Deutung treten muß. So gelangte Sailer notgedrungen nur zu einer subjektiven Wiedererweckung der christlichen Urtatsachen im frommen Gemüt, und die Kirche wurde wesentlich als der Raum der mystischen Verinnerung der Christustatsache verstanden.“ (Theologie im Aufbruch, XI-XI1I). Josef Ruppert Geiselmann, den man für massgebende Autorität halten muss auf dem Gebiete der Erforschung der Tübinger Schule, charakterisiert mit folgenden Worten die „Wende“ und