Török Dalma (szerk.): Mantel der Traume. Ungarische Schriftsteller erleben Wien, 1873-1936 (Budapest, 2011)
Studien - Kornél Zipernovszky: Wem hat Wien den Charleston zu verdanken?
Das erste Jahrzehnt nach dem Ersten Weltkrieg sowie dem Abschluss des Friedensvertrags von Trianon war sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Mitteleuropa voller Widersprüche, ein Spannungsfeld gegensätzlicher Kräfte. Das geistig-kulturelle Leben der Ersten Republik Österreichs apostrophierte der Historiker Friedrich Heer als latenten Bürgerkrieg. Die zwanziger Jahre ließen sich nur schwer ohne die Bestimmung gegensätzlicher Standpunkte, einander abstoßender Pole und sich kreuzender Tendenzen beschreiben: Während den allgemeinen Geschmack die Walzer von Johann Strauss bestimmten, komponierte Schönberg bereits 1921 nach den Prinzipien der Zwölftontechnik seine Suite für Klavier (op. 25). In demselben Jahr scheiterte das freimütige Stück Reigen von Arthur Schnitzler und rief einen Skandal hervor. Zum Ende des Jahrzehnts aber beansprucht der bislang nur als Tanzmusik bekannte Jazz immer größeren Raum in den höheren Regionen der Kultur: Im Wiener Konzerthaus findet beispielsweise ein „Neger-Jazz‘‘-Konzert mit der Jazzkapelle des Pianisten Sam Woodings statt. Ein Sachbuch zur Musik, das von der offenen, doch entschieden konservativen Gesellschaft Magyar Szemle Társaság herausgegeben wurde, erwähnt in seiner Bilanz zum musikalischen Leben des Jahrzehnts ebenfalls die Lähmung nach dem Krieg: Die moderne Kunst richtet ihre Linie nach dem fiebrigen Tempo des Lebens. Dieser Lebensrhythmus heizt seinen Motor (jazz) mit der Energie der primitiven Urrhythmen Amerikas und Afrikas an, um den Schnelligkeitsrekord der Linie zu steigern, da die Vitalität der europäischen Volksmusik nicht zur Auffrischung der angeschlagenen Innovationsfreudigkeit genügt. Die lineare Musik steht prinzipiell für den Kultus der Formen, doch der Kampf- und Wettstreit horizontaler Energien, verzögert die Herauskristallisierung der Formen.13 Wenn Emil Haraszti im Zusammenhang mit seinen eigenen Zeitgenossen, Strawinsky, Honegger, Prokofjew, George Antheil, Varese und Maurice Martenot Verallgemeinerungen vornimmt, so richten sich seine Gedanken nicht mehr allein auf die Motorisierung, die Welt der technischen Zivilisation, sondern lassen auch globalisierende Tendenzen erkennen. Die geistige Dynamik zwischen Wien und Budapest kann diesen - betrachtet man nur die leichtere Gattung - in den zwanziger Jahren noch Widerstand leisten. Die Hochzeit des Swing aber, auf dem Höhepunkt seiner Kommerzialisierung, führt zur ersten, im Kontext der westlichen Welt globalen gemeinsamen Sprache der Musik- und Freizeitkultur der Jugend. Damit der Jazz seine künstlerischen Ambitionen realisieren kann, muss er zu diesem Zeitpunkt einen bereits vollkommen anderen Weg einschlagen. Zeitgleich mit dieser Veränderung emigriert 1946 ein junger Gitarrist aus Esztergom, Attila Zoller, und tritt in Wien mit Vera Auer und Hans Koller auf, wo sie gemeinsam ein denkwürdiges Kapitel in der Geschichte des Modern Jazz zu schreiben beginnen. 191