Török Dalma (szerk.): Mantel der Traume. Ungarische Schriftsteller erleben Wien, 1873-1936 (Budapest, 2011)
Studien - Kornél Zipernovszky: Wem hat Wien den Charleston zu verdanken?
daran arbeitet, dass das Establishment einerseits eine Trennung zwischen Unterhaltungsmusik und Jazz vornimmt, andererseits diesen nach den gleichen künstlerischen und ästhetischen Kriterien wie die klassische Musik beurteilt, fördert und lehrt. Diese Mission, die ihrer Erfüllung seitdem viel näher gekommen ist, konnte man gegen Ende der siebziger Jahre am besten damit voranbringen, dass man die zeitgenössische Tanzmusik, den Swing, der die Grundlage der Popmusik bildete, nicht mit dem künstlerisch ausdrucksvolleren Zweig des Jazz in Zusammenhang brachte, sondern vielmehr versuchte, wie Gonda in seinem Buch auch, ihn von der Tanzmusik zu distanzieren. Im Hinblick auf die Entwicklung des Jazz in Ungarn sollte beachtet werden, dass das Budapester Jazz-Konservatorium von Gonda und seinen Kollegen zwar gleichzeitig mit jenem in Graz gegründet wurde, in der Avantgarde des Jazz aber die Ungarn nicht mehr mithalten konnten. Während im Österreich der siebziger Jahre beispielsweise der legendäre Dichter Ernst Jandl und eine ganze Reihe österreichischer bildender Künstler gemeinsam mit Jazz-Musikern arbeiteten, kam die freie Improvisation in Ungarn nur mit Hindernissen zur Geltung und vermochte kaum eine Beziehung zu anderen Kunstgattungen herzustellen. Die Zusammenarbeit kam am ehesten noch in der ungarischen Filmkunst jener Zeit - durch die Filmmusiken von Gonda, Vukán und anderer - zustande. Doch bevor wir uns gefährlich dem zweifachen historischen Abgrund nähern, der die Verspätung der ungarischen Jazz-Kunst erklärt, sollten wir lieber zu den fulminanten Zwanzigern zurückkehren. Géza Falk, der unermüdliche Musikhistoriker und Verfasser zahlreicher populärer Werke, erklärte die „plötzliche Expansion der amerikanischen Neger-Musik sowie des Jazz in Europa“ geradewegs mit dem Trauma des Krieges und der seitdem schnelllebigeren Zeit: In der Neuen Welt war die Neger- und die Jazz-Musik bereits seit langem lebendig, entwickelte sich, befand sich in den Händen gelernter Musiker, als wir Europäer noch kaum von ihr gehört hatten. Die amerikanischen Soldaten an den westeuropäischen Frontlinien und die Musiker und Produzenten westeuropäischer Länder, die frei mit Amerika verkehrten, verpflanzten die amerikanische Musik allmählich hierher. Und nach dem Ende des Weltkrieges strömte diese typisch amerikanische Musik wie heiße Lava nach Europa. Der Walzer, das Chanson, die Operette erwiesen sich für die strapazierten Nerven der europäischen Völker als allzu sanft. Es brauchte die alles umfassende, kurze Form von 32 Takten, diese ,uniforme“ Musik mit ihrer Rundheit, ihrem abwechslungsreichen, aufregenden Rhythmus, neuartiger Harmonie und Instrumentalisierung sowie die strengen, gleichmäßigen Trommelschläge, um die mitgenommenen Nerven wieder zusammenzureißen und den Blutgeruch des Gestern vergessen zu lassen! Die Jazz-Musik brach mit einer elementaren Kraft, mit der sie alles auf den Kopf stellte, in die europäische Tanzmusik ein.12 190