Török Dalma (szerk.): Mantel der Traume. Ungarische Schriftsteller erleben Wien, 1873-1936 (Budapest, 2011)

Studien - Kornél Zipernovszky: Wem hat Wien den Charleston zu verdanken?

der Ausgangspunkt für viele amerikanische Musiker, die international Karriere machen wollten, Briggs perfektionierte sein Spiel hier beispielsweise bei einem Professor der Royal Academy. Ab Mitte der zwanziger Jahre gab es zahlreiche solcher Kapellen in Europa wie jene, in der auch Chappy spielte: Briggs, der Orchesterleiter, war Amerikaner, Chappys alter Freund, der Saxophonist Mario Scanavino, Italiener, der andere Saxophonist, Joseph Vidal, Franzose, der Pianist, Gide van Gils, Belgier, Mike Angelein war Engländer und der Sänger, Heinz Müller, Deutscher.9 In der Hochzeit des Jazz war für die Amerikaner der wichtigste Ort Paris, und dies galt selbstverständlich auch für die Schriftsteller, Maler und anderen Komödianten der verlorenen Generation, was sich mit einem einzigen Beispiel illust­rieren lässt: Der Dichter Langston Hughes, die Schlüsselfigur der Bewegung „Harlem Renaissance“, entschied damals, seine Metrik aufgrund der Wirkung der synkopierten Jazz-Rhythmen abzuändern, als er in einem Lokal der Rue Pigalle die Palmer Jones Band hörte.10 Dieser Palmer Jones aber war derselbe Orchesterleiter, der die Palm Beach Five und mit ihnen Granstaff nach Budapest brachte. Die Ehefrau von Jones, die Sängerin - und noch eher Hausfrau - Florence Jones war die wahre Attraktion des Le Grand Duc. An Florences Namen knüpft sich auch der Black Bottom, die Ver­breitung eines Tanzwahns auf dem alten Kontinent, der dem Charleston ähnelte, doch kurzlebiger war.11 Zu jener Zeit waren die Revue, die Salonmusik und der auch heute noch als bleibender künstlerischer Wert beur­teilte Jazz - sowohl was die Darbietungen als auch die Interpreten anging - kaum voneinander zu trennen. Denken wir dabei nur an Palmer Jones, der Abend für Abend an der Spitze seiner Tanzorchester auf der Bühne stand, oder an die Auftritte von Arthur Briggs, als er gemeinsam mit Louis Armstrong, der sich auf einer Tournee durch Europa befand, oder Sidney Bechet, der in Frankreich als Held gefeiert wurde, musizierte. Sie und Eddie South, der Jazz­geiger, der sein Geigenspiel in Ungarn bei Jenő Hubay verfeinert hatte, spielten ab Ende der dreißiger Jahre auch zusammen mit Django Reinhardt und Stéphane Grappelli, von diesen Auftritten ist die eine oder andere Aufnahme entstanden. Der häufige Wechsel zwischen diesen Stilrichtungen der Unterhaltungsmusik bedeutete keine so verwe­gene Unternehmung, wie man heute vielleicht glauben könnte. Man darf nicht vergessen, dass bedeutende Stücke der frühen ungarischen Jazz-Geschichte von Interpreten und Komponisten erhalten geblieben sind, die mit dersel­ben Selbstverständlichkeit auch Operetten oder Couplets komponierten. Die Frage, ob die Zeitgenossen die Jazz-Musik der zwanziger und dreißiger Jahre wohl als Kunst betrachteten oder welche gesellschaftlichen Reaktionen sie in dieser Zeit hervorrief, muss aufgrund der Meinung eben dieser Zeitge­nossen entschieden werden. Wenn János Gonda sein eigenes Verständnis von Jazz von jenem Chappys abgrenzt, darf man nicht vergessen, dass der Pianist, Komponist, Musikwissenschaftler und Pädagoge Gonda unermüdlich 189

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