Török Dalma (szerk.): Mantel der Traume. Ungarische Schriftsteller erleben Wien, 1873-1936 (Budapest, 2011)

Studien - Júlia Lenkei: Untergetaucht in Wien - Béla Balázs

Doch das Leben derjenigen, die schon angekommen waren und sich in Wien bereits vertrauter bewegten, war auch nicht einfach. Wenn sie auch für ihren Unterhalt sorgen konnten, so ging das nicht automatisch, es bedurfte vieler Organisationsarbeit und Mühe. „Jeden Morgen ging ich mit einem Zettel von zu Hause los, auf dem zwanzig ver­schiedene Arbeitsprogramme aufgeschrieben waren, todmüde kam ich nach Hause und hatte nicht einmal die Hälfte erledigt" — klagt Béla Balázs.9 Er ist einer der wenigen, der in der Provinz eine ruhige Arbeit fand — einmal entfuhr seiner Feder sogar: „Ich sehne mich zurück nach Reichenau”10. Doch in den Pausen der Hetze verweilte auch er sich ausruhend oder wartend im Kaffeehaus in der Innenstadt. „Lange, ziellose Abende im Central und im Greilinger.”11 Häufig ist er auch gezwungen, dort zu arbeiten: „Den ganzen Tag saß ich in Kaffeehäusern. Dort schrieb ich meine Kinotexte und einige Artikel oder Übersetzungen...”12 Der Ort ist auch künstlerisch inspirierend: „Man müsste über das Stöckl schreiben. Mehr als in mein Tagebuch passt. Über das Stöckl werde ich in meinem nächsten Roman schreiben. Ein nettes, vornehmes, stilles, altes Biedermeier-Café, das fast nur Stammkunden besuchen, noch dazu zu zwei Dritteln ungarische Emigranten und Künstler (...) ein merkwürdiges kleines Glas Wasser im Weltensturm, ein kleiner Webstuhl der weltrevolutionären Schicksale. Genau der Zuschauerplatz des Romanautors, im Sinne des Erzählers in Dostojewskis Romanen, der irgendwie alles hört und alles sieht. Die Menschen trinken hier einander gegenüber sitzend monatelang ihren Kaffee, der ungarische Kommunist, die norwegische Bildhauerin, der ukrainische weiße Offizier usw. Sie kennen einander nicht, doch wissen sie über die Ober, die Verbindungsleute, alles vonein­ander. Und das Park-Hotel gegenüber ist ebenfalls ein bunter internationaler Umsteigeplatz.”13 Als er selbst bereits angekommen ist, träumt er schon von einem eigenen Tisch: „Freitagabends werde ich im Schloss-Café einen Jour abhalten, einen Balázs-Tisch, zu dem jeder kommen kann, der mit mir sprechen will. Mittwochabends aber werde ich im Café Museum an den Tisch von Musil, Robert Müller und den anderen gehen.”14 „Emigrant ist derjenige, der in einem fremden Land lebend auch an nichts anderes denken kann als an seine Heimat” — hält József Lengei weise fest.15 Das Heimweh schmerzte aus dieser Nähe vielleicht noch mehr, denn die neue Umgebung war im Vergleich zu der alten keine vollkommen andere, doch anders genug, um fremd zu sein. So kenn­zeichnet ein Lehrer von Balázs, Georg Simmel, das Phänomen anschaulich: „Denn das Fremdsein ist natürlich eine ganz positive Beziehung, eine besondere Wechselwirkungsform; die Bewohner des Sirius sind uns nicht eigentlich 143

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