Magyar László szerk.: Orvostörténeti Közlemények 170-173. (Budapest, 2000)
KÖZLEMÉNYEK — COMMUNICATIONS - Lammel, Hans-Uwe: Konzepzionswandel. Die Berliner Chirurgische Klinik in der Ziegelstrasse im Übergang von Bergmann zu August Bier. — Koncepcióváltás. A berlini Ziegelstras s ei Sebészeti Klinika Bergmanntól August Bierig
poliklinisch behandelten Patienten ebenso zunahm wie die Zahl der Studenten. Bier hatte keinerlei Sinn für pathologische Anatomie und Bakteriologie, eine Tatsache, die schon 1907 bei den Überlegungen der Berliner medizinischen Fakultät über die Nachfolge von Bergmanns eine nicht unerhebliche Rolle gespielt hatte. 23 Dabei hatte es August Bier mit den gleichen Krankheitsbildern zu tun wie sein Vorgänger, mit Furunkel und Karbunkel, Panaritium, Knochenentzündung, Gelenkempyem usw. usf. Aber die Lage hatte sich unvergleichlich zugespitzt. Das systematische Verdrängen von die Chirurgie störenden Erregern hatte zur massenhaften „Entstehung" neuer Erreger geführt. Die Ursache dafür lag genau in dem von Sigerist benannten Moment, daß man sich der naturwissenschaftlichen Neuerungen erst zu einem Zeitpunkt bediente, als man im Vergleich zur chirurgischtechnischen Seite des eigenen Tuns bereits ganz andere Maßstäbe für diesen Bereich hätte anlegen müssen. Diese Ungleichzeitigkeit kommt unmittelbar im schon erwähnten Ringen der Berliner medizinischen Fakultät um einen geeigneten Nachfolger für von Bergmann zum Ausdruck. Trotz einer nicht ausreichenden Durchbildung auf den Gebieten der pathologischen Anatomie und der Bakteriologie, so heißt es im handschriftlichen Fakultätsprotokoll, galt Bier der Fakultät als ein „geschickter Chirurg", vorzüglicher Redner und akademischer Lehrer. Auf diese Formulierung einigte man sich, nachdem zuvor von Bier als einem „ausgezeichneten, zuweilen wohl etwas kühne[m] Operateur" die Rede gewesen war. 24 Im Gegensatz dazu galt von Bergmann von der Indikationsstellung her eher als ein konservativer Chirurg. Aber das ist nur ein scheinbarer Gegensatz. Ein konservativer Chirurg zu sein, war auch für Bier nicht unzutreffend. Konservativ hieß hier, im frühest möglichen Stadium der Erkrankung zu schneiden, um möglichst viel gesundes Gewebe zu bewahren. Konservativ besaß also Konnotationen wie hellsichtig und entschlußfreudig. Was wohl dagegen ein wirklich entscheidender Unterschied war, ist die Tatsache, daß von Bergmann, wenn er über einzelne Krankheiten sprach oder schrieb, selten Überlegungen zur Frage der Veranlagung oder Disposition zu einer bestimmten Erkrankung hat einfließen lassen. Und auf diesen Unterschied soll es mir am Schluß ankommen. In einer Strategie der absoluten Keimminimierung konnten solche Ideen auch keinen Platz finden. 25 Von Bergmann glaubte an die Perfektibilität des eigenen chirurgischen Tuns wie auch der chirurgischen Rahmenbedingungen. Im Gegensatz dazu hat August Bier in ganz auffälliger Weise die Erblichkeit und Vererbbarkeit von Widerstandsfähigkeit gegenüber den permanenten, als absolut lebensnotwendig empfundenen Reizen der menschlichen Umwelt und die Erblichkeit der Fähigkeit zur Genesung von durch diese Reize hevorgerufenen Krankheiten in den Mittelpunkt seines wissenschaftlichen Interesses gerückt. Er lokalisierte diese Eigenschaften in der Physis, der seine neohippokratischen Publikationen gewidmet sind. 26 Diese Position brachte den Arzt in eine — epistemologisch gesehen •— völlig neue Situation. Nicht mehr der Arzt mit seinen Möglichkeiten und Kenntnissen war dafür zuständig, daß krankmachende Noxen vom Individuum ferngehalten und im Krank23 Vgl. hierzu H.-U. Lammel: August Bier und das Ende der Chirurgischen Universittsklinik in der Berliner Ziegelstraße, Manuskript. 24 Universitätsarchiv der Humboldt-Unviersität zu Berlin, Med. Fak. Nr. 1380, Bl. 38. 25 E. von Bergmann: Die antiseptische Wundbehandlung (Anm. 7), S. 166, heißt est: „Das Endziel aber kann ... nur sein, kein Bacterium in die Wunde kommen zu lassen, jedes in sie geratene aus ihr zu entfernen und während der ganzen Heilung die Vegetationen in und auf ihr zu verhindern." 26 Siehe hierzu H.-U. Lammel: Chirurgie zwischen therapeutischem Konzept und „ Weltanschauung". Manuskript.