Magyar László szerk.: Orvostörténeti Közlemények 170-173. (Budapest, 2000)

KÖZLEMÉNYEK — COMMUNICATIONS - Lammel, Hans-Uwe: Konzepzionswandel. Die Berliner Chirurgische Klinik in der Ziegelstrasse im Übergang von Bergmann zu August Bier. — Koncepcióváltás. A berlini Ziegelstras s ei Sebészeti Klinika Bergmanntól August Bierig

heitsfall alle schädigenden Einflüsse minimiert werden, also das Individuum gesund wurde, vielmehr bringt das Individuum mit der ihm angeborenen Physis bereits alle Möglichkeiten sowie auch alle Unmöglichkeiten, gegenüber bestimmten Krankheiten zu bestehen, mit. Der Arzt, wie ihn Bier versteht, ist nur noch der Interprétant, der die großen Bewegungen des Lebens überschaut und bewertet. Diese Position reichte soweit, daß die Therapie des Arztes als in der Lage befindlich aufgefaßt wurde, höherwertiges Leben von minderwerti­gem Leben zu diskriminieren. Es muß wohl nicht gesondert hervorgehoben werden, daß für einen demokratischen Denkansatz hier kein Platz mehr war. Diese Konzeption August Biers entstand im Rahmen einer deutsch-nationalen Kulturbewegung, die sich Dritter Hu­manismus nannte 27 und sich zum Ziel gesetzt hatte, in eben dem beschriebenen Sinne und in erneuter Auseinandersetzung mit antiken Überlieferungen bestimmte Probleme, die Deutschland auf dem Wege in die Moderne erwachsen waren, zu meistern. 28 Eben wie einer der Begründer dieser Richtung, der Berliner Altphilologe Werner Jaeger, den Histori­ker nur als einen positivistischen Faktensammler bezeichnete, dessen Arbeit erst durch den Altphilologen qualifiziert werde, indem dieser jene Fakten auf ihren Wert für die Kultu­rentwicklung hin hinterfragt und bewertet, 29 so ist nach Bier der neue Arzt derjenige, der die Positivitäten der naturwissenschaftlich vorgehenden Chirurgie und Medizin erst in ihrer vollen Bedeutung für die Gesellschaft erkennt und einzuschätzen versteht. Beide Positio­nen, sowohl die Jaegers als auch die Biers, verkennen völlig, daß ihre elitäre Haltung ohne die in ihren Augen minderwertige positivistische Forschung von Ärzten und Historikern kaum denkbar war. Und das, so meine ich, ist der wissenschaftshistorische Ort, der aus zwei unegalen Schuhen wie Bergmann und Bier ein Paar macht. Das Paar heißt deutsche Chirurgie am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert und zehrt scheinbar noch von der Wissenschaftssystematik des 18. Jahrhunderts, hier História und dort Philosophia. Tatsäch­lich haben wir hier einen Reflex auf die in Deutschland im Gegensatz zu England und Frankreich sich rasch vollziehenden disziplinaren Differenzierungs- und Rollen bzw. Per­sonen betreffenden Spezialisierungsvorgänge vor uns, 30 denen die Bildungsidee als Ent­wicklungstheorie zugrunde liegt. 31 Bier erkennt, daß Spezialisierung die Philosophie als das prominente Opfer gefordert hatte. Er glaubt nicht an ein Einheit stiftendes „Zusammen­H.-U. Lammel: August Bier und der Dritte Humanismus, in: Text and Tradition. Studies in Ancient Medicine and its Transmission. Presented to Jutta Kollesch, hrsg. von Klaus-Dietrich Fischer, Diethard Nickel und Paul Potter (= Studies in Ancient Medicine, Bd. 18), Leiden/Boston/Köln 1998, S. 175—202. Meines Wissens hat als erster mein Lehrer Georg Harig: August Bier und die Geschichte der Medizin, Zentralblatt für Chirurgie 111 (1986), S. 1404—1410, auf diesen Zusammenhang aufmerksam gemacht. Jeffrey Herf: Reactionary modernism. Technology, culture, and politics in Weimar and the Third Reich, Cam­bridge University Press 1984. Donald 0. White: Werner Jaeger's „Third Humanism" and the Crisis of Conservative Cultural Politics in Wei­mar Germany, in: Werner Jaeger reconsidered. Proceedings of the Second Oldfather Conference, held on the campus of the University of Illinois at Urbana-Champaign, April 26—28, 1990, ed. by William M. Calder III, Atlanta, Georgia 1992, S. 267—288 (= Illinois Classical Studies, Suppl. 3; Illinois Studies in the History of Classical Scholarship, Bd. 2), und Beat Näf: Werner Jaegers Paideia: Entstehung, Kulturpolitische Absichten und Rezeption, ebenda, S. 125—146. Rudolf Stichweh: Bildung, Individualität und die kulturelle Legitimation von Spezialisierung, in: ders: Wissen­schaft, Universität, Professionen. Soziologische Analysen, Frankfurt/Main 1994, S. 207—227 (erstmals veröf­fentlicht in: J. Fohrmann und W. Voßkamp (Hrsg).: Wissenschaft und Nation, München 1991, S. 99—112). Ebenda, S. 216.

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