Markója Csilla szerk.: Mednyánszky (A Magyar Nemzeti Galéria kiadványai 2003/2)

Csilla Markója: „Die Entfernung zwischen einem erhabenen und einem abscheulichen Gesicht". Über die außergewöhnliche Kunst des László Mednyánszky

anderer Stelle bezeichnet er die „höheren Operationen" als „Gedankenoperationen", die sich durch Kreuzung von „Gedankenfolgen" vollziehen. „Ein auf rein formalem Eindruck beginnender Gedankenablauf führt zu einer schon bekannten allgemeinen Formenreduktion, wie z. B. einige zufällig entstandene Flecken uns an eine Landkarte denken lassen, wo die Konfiguration einer befestigten Küstenstadt mit Hafen ähnelt. 2. Stufe. Man denkt an Festungsbelagerung und Krieg." 65 Uns hingegen kommt Leonardo in den Sinn, der sich in den amorphen Schimmelfieck einer Steinmauer allerlei verschiedene Gebilde hineindachte (und auch irgendwie Schlachten darin entdeckte). 66 Jeder kennt die Wahrnehmung, dass wir in einem gestaltlosen Fleck, wenn wir ihn lange genug betrachten, früher oder später Formen oder Figuren zu erkennen glauben. Darauf beruht auch ein bekannter psychologischer Test. Das ausdauernde Betrachten der Formen kann aber auch bedeuten, dass sich die Dinge ins Gegenteil verkehren. Warum Mednyánszky, der mit seiner Kunst immer so nah an der Narrativität oder - nach seiner Formulierung - am „Libretto" war, nie, wie so viele seiner Zeitgenossen und Vorbilder, den „Frevel" des Literarischen, der Illustrativität oder der Genreartigkeit beging, mag eben an seiner alltäglichen Praxis der ausdau­ernden Betrachtung der Formen liegen, die ihn dagegen immun machte. So wird es möglich, dass Károly Lyka, der später die große progressive Wende der ungarischen Kunst, die eigenständige impressionistische Schule von Nagybánya propagierte, Mednyánszky als Lehrmeister einer ganzen Generation bezeichnete. Und zwar - was ihm seitdem vielfach vorgeworfen wird - auf formaler Grundlage. Für ihn war Mednyánszky ein Maler, der „nicht das literarische Element, das zum Ausbau von Reflexionen geeignete Material aus der Natur auswählte, sondern das Material, das in erster Linie, ja ausschließlich mit der Malerei ausgedrückt und charakterisiert werden konnte". 67 Diese Geste Lykas war eine symbolische Inbesitznahme. Er entriss den Maler damit dem Interpretationskreis, zu dem dieser in der ersten Hälfte seines Lebens gehört hatte. Es war der Kreis um Zsigmond Justh, István Czóbel, Dezső Malonyay und Gyula Pékár. Wir werden später im Zusammenhang mit der Frage „nationale und kulturelle Identität" noch auf die Bedeutung dieser Wende zurückkommen. 1897 war also unter mehreren Aspekten eine wichtige Zäsur im Leben des Künstlers. In Paris zeigte er 60 Bilder, die sowohl formal als auch ikonographisch irgendeine Neuheit darstell­ten. Auf dieser Pariser Ausstellung, die übrigens fast die einzige größere Œuvre-Ausstellung zu Lebzeiten des Malers war, 68 zeigte Mednyánszky auch das „abscheuliche" Gesicht seiner Kunst. Der größte Teil der Werke ist zwar in Frankreich geblieben und seitdem verschollen, trotzdem läßt sich aus den Titeln und der Beschreibung des ersten Mednyánszky­Monographen Dezső Malonyay recht gut rekonstruieren, welcher Typ von Bildern ausgestellt war, und ein paar der Exponate konnten seither auch identifiziert werden (Kat. 82-86). Bereits der erste Bildtitel ist aussagekräftig: Sterbender Maler. Und auch die weiteren Themen sind sehr charakteristisch: Feuerbrunst, Hochwasser, Unfall, Landstreicher und eine „Landstreicher-Galerie", insgesamt acht Exponate „Types de boulevards extérieurs". Wie schon erwähnt, knüpfen diese extrem anmu­tenden Themen teils eng an die zeitgenössische Kunst an, teils hatten sie ihre organischen Vorläufer in der frühen Malerei Mednyánszkys, deren „Entdeckung" und Ausstellung jetzt womöglich die größte Neuheit unserer gegenwärtigen Ausstellung ist. Diese in der Heimat des Malers, in Oberungarn, auf dem Gebiet der heutigen Slowakei verbliebenen und aufbewahrten Werke waren bisher für die ungarischen Forscher und auch für das ungarische Publikum nicht zugänglich. Aus Anlass unserer Ausstellung begann vor ein paar Jahren eine gemeinsame Forschungsarbeit, und die Ausstellung selbst ist in diesem Sinne jetzt der erste Schritt in der Aufarbeitung der Kunst Mednyánszkys. Diesem ersten, aber sehr bedeutenden Schritt gingen die Monographie von Ernő Kállai von 1943, die Ausgabe der Mednyánszky-Tagebücher von I960, 69 die Monographieskizze von Mihály Sarkantyú 70 und die Quellenausgaben in der kunsttheoretischen Zeitschrift Enigma in den Jahren 2000, 2001 und 2002 voraus. 71 Der überwiegende Teil des auf 3 000-4 000 Ölgemälde und mehrere tausend Graphiken geschätzten Mednyanszky-Œuvres befindet sich im Ausland oder ist im Inland verschollen oder wird in Privatsammlungen aufbewahrt. Der Teil des Œuvres, der in öffentlichen Sammlungen registriert ist, zerfällt aus historischen Gründen in zwei Teile: Die eine Hälfte, der „frühe Mednyánszky" ist in der Slowakei, die andere, der „reife Mednyánszky" ist in Ungarn zu finden. In der gegenwärtigen Ausstellung, die auch in Bratislava gezeigt wird, mag die slowakische Öffentlichkeit vielleicht überrascht feststellen, welche grundlegenden Veränderungen die Malerei Mednyánszkys, beginnend mit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert durchlaufen hat. Das unga­rische Publikum wiederum kann sich mit den in München, Barbizon, Wien und Strázky entstandenen Vorläufern seiner allgemein beliebten „farbigen" und „nächtlichen" Landschaften (Abb. 17-18) oder mit der seltsamen Genesis der monumentalen Landstreicherbilder in der allegorisch-symbolistischen und der - vom Künstler so bezeichneten - „Sadismus-Periode" 72 bekannt machen. Das „abscheuliche" Gesicht Mednyánszkys ist auch heute weniger bekannt als das „erhabene". Genauso war es zu seiner Zeit. Obwohl er auch in der Heimat in vielen Gruppenausstellungen Landstreicherbilder ausstellte, war dies nicht die Regel, und vor allen Dingen wurde er von den Kritikern, den Sammlern oder dem großen Publikum nicht für diese Bilder gerühmt. Eben Károly Lyka, den man der formalistischen Anschauung bezichtigte, beeilte sich, auf die figürlichen Bilder Mednyánszkys aufmerksam zu machen: „Unter den unzähligen Studien und halb­vollendeten Gemälden entfällt ein nicht geringer Prozentsatz auf die figürlichen Bilder, d. h. auf Produkte seines Schaffens, die sozusagen niemals auf Ausstellungen zu sehen waren. Riesige, vierschrötige, sturmgebeutelte Gestalten, Landstreicher, Wegelagerer, Invaliden und schiffbrüchige Existenzen der Vorstädte, die ein beständiges Pleinair-Leben fristen, belagern in dämmriger, rötlicher Beleuchtung die Leinwand." Während Lyka die Bedeutung 16 László Mednyánszky: Am Ufer, Öl auf Leinwand, 75 X 100 cm (Privatbesitz, Repr. Kieselbach Galerie, Herbstauktion 2002, Pos. 119)

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