Markója Csilla szerk.: Mednyánszky (A Magyar Nemzeti Galéria kiadványai 2003/2)
Csilla Markója: „Die Entfernung zwischen einem erhabenen und einem abscheulichen Gesicht". Über die außergewöhnliche Kunst des László Mednyánszky
liehe und die malerische Seite gewesen." 47 Was ihn bei den „Starken" anzog, war das „tierische" Wesen: „Heute habe ich bemerkt, dass ich die Menschen den Tieren ähnlich sehen muss [...] wenn ich Mitleid für sie empfinden will." 48 Dasselbe, übertragen auf die Maltechnik des Porträts: „Um das Interessante an einem Kopf zu finden, also die Seele, muss man zuerst die verschiedenen Grundbestandteile suchen. Hinter der äußeren Gestalt das entsprechende Tier. Dann muss man herausfinden, welchen Ausdruck dieser Kopf auf der ihm höchstmöglichen Stufe der inneren Erregung annehmen könnte." 49 Das Tierische ist bei Mednyánszky ein Prädikat von absolut positivem Sinn, wie dies aus seinen zahlreichen Aufzeichnungen zum Wesen der Melancholie hervorgeht: „Das Bewusstsein der Vergänglichkeit wird also durch gewisse physiologische Wirkungen hervorgerufen. Ohne diese Melancholie und das Bewusstsein der Vergänglichkeit sind nur reine tierische Stimmungen möglich. Die tierischen Stimmungen erwecken bloß Lebensfreude ohne jeglichen Gedanken hinsichtlich Zukunft und Vergangenheit und sind vollkommen harmonisch." 50 Mednyánszky, der die Melancholie - nicht ganz frei von Schopenhauer- und Nietzsche-Lektüre - als einen „schwachen" und zugleich „besinnlichen" Zustand betrachtete und im Gegensatz zur freudigen und gedankenlosen, reinen Welt der Starken sah, durchtränkte mit dieser Melancholie vielfach seine Landschaften, während seine figürlichen Bilder eher Kräftekonstellationen, Kräfte in Ruhe oder in Aktion darstellen. Die Frage der „Schwäche" hat auch Millet beschäftigt. Angeblich fürchtete er, dass seine Stimme schwach sei: „Es ist mehr wert zu schweigen, als sich schwach auszudrücken.." 51 Womöglich entsprang das Verlangen nach Monumentalität, das die Kunst der beiden so groß machte, eben dem erdrückenden Bewusstsein ihrer Geringfügigkeit. Ikonographische Fragen der Landstreicherbilder: Ribera, Daumier und die französische Pressezeichnung Das Lebenswerk von Millet war für Mednyánszky in jungen Jahren ein großer Lehrmeister. Doch mindestens ebenso wichtig waren die künstlerischen Einflüsse, die in Paris auf ihn einwirkten. Dabei ist als Vorläufer der Landstreicherbilder die ikonographische Tradition der Bettlerphilosophen und Lumpensammler, des „Chiffonier philosophe"' hervorzuheben, die ihm teils durch die hohe Kunst, teils durch die französische Pressezeichnung, die Karikatur, die populäre Illustration, die von Daumier oder Gavarni zu Typenpanoramen komprimierte Bildtradition der Pariser Unterwelt-Boheme von Sue und Murger, der Baudelaire'schen Lumpensammler und Absinthtrinker vermittelt wurde. Nicht von ungefähr hatte die oben erwähnte einzige Œuvre Ausstellung Mednyánszkys in der Pariser Galerie Georges Petit eine gute Kritik. Mednyánszkys Absinthtrinker, seine im Dunkel der Nacht in den Straßen der Außenbezirke herumschleichenden „Raubtiere" und mit dem Sack auf dem Rücken umherziehenden Lumpensammler waren Manets Werken Absinthtrinker (1859), Bettler (1865) und Lumpensammler (1869) nachgeraten. Manet, der ebenfalls aus der Oberschicht kam und einer konservativen großbürgerlichen Familie entstammte, war in ein Armenviertel von Paris gezogen und hatte eine ähnliche Porträtgalerie der Bohème gemalt wie Mednyánszky. Der umherziehende Zigeuner, der um Almosen bittende Bettler und der Ewige Jude - diese in ihrer Heimatlosigkeit emblematischen Figuren werden zu „realen Allegorien". Mednyánszky, der die Millet-Werke studierte und kopierte, verschmolz die Tradition der „allegorie réelle" mit der österreichischen Umschrift der Tradition von Barbizon. „Heute bin ich auf die alte klassische Auffassung gekommen. Zu bestimmten Landschaftsbildformen passt eine bestimmte Stimmung, und unterschiedliche Landschaftsbildtypen verlangen unterschiedliche Aktion. Sie sind in sich selbst ungegliedert, wir müssen sie also künstlich gliedern. Wir müssen sie aus der absoluten Objektivität herausheben und humanisieren. Bei dieser Gelegenheit ist mir noch etwas aufgefallen: Wie wirkt ein realistisch gemachter, ruhiger Hintergrund, vor den wir Figuren stellen? Manchmal verleiht er ihnen einen großen, monumentalen Zug, weil auf die verhängnisvolle Abhängigkeit vom Material hingewiesen wird. Das ist der Sklave mit der Kette, der Gekreuzigte mit dem Kreuz seiner Pein", schrieb er 1901. 52 Aus den unvereinbaren Elementen von Monumentalität und Stimmungsmalerei ging das künstlerische Arkanum hervor, das durch die Spannung zwischen Empfänglichkeit für dramatische Affinität, Sadismus und Tragödie bzw. die meditativdüstere Melancholie glühte. Uber die konkrete Rolle Daumiers in Mednyánszkys Kunst sind die Meinungen geteilt. Zwar scheint es einen ziemlich eindeutigen Zusammenhang zwischen den Lichtsilhouetten der Werke Daumiers und Mednyánszkys bzw. zwischen Daumiers Flüchtlingsbildern und -reliefs und Mednyánszkys Darstellungen von Kriegsflüchtlingen zu geben (Kat. 263), doch lässt sich Daumiers Einfluss nur schwer konkretisieren. Aber vielleicht ist eine konkrete Analogie auch gar nicht erforderlich. Denn es geht aus vielen Details der damaligen Rezeption hervor, dass die Zeitgenossen über die Bedeutung dieser ikonographischen Tradition in Mednyánszkys Schaffen ziemlich konkret bescheid wussten. In der selbstverständlichen Kenntnis der Bildtradition verglichen sie die Gestalt Mednyánszkys mit Sokrates oder Diogenes. Nach Gyula Pékár hatte Mednyánszky ein Lächeln „wie Diogenes" und „der Künstler, der Mensch war - abgesehen von seiner Legende als Bettler und Diogenes - völlig unbekannt." 53 Nach Justh erinnert der Kopf Mednyánszkys „an Antokolski, den großen russischen Sokrates". 54 Laut Lyka war Mednyánszky „ein abgerissener Landstreicher der Zips und des Karst mit der Anspruchslosigkeit eines Diogenes". 55 Borsody meinte, dass er „einen ungewöhnlich geistreichen, spöttischen, aristokratischen Humor hatte. Einen anakreontischen Humor, der sich mit dem Geist eines zynischen Weisen verband." 56 Ella Megyery sprach in Bezug auf die Boheme-Lebensweise Mednyánszkys geradewegs von „Murger'scher Romantik". 57 Zoltán Farkas dachte bei der Kunst Mednyánszkys manchmal an 13 László Mednyánszky: Blumensträuße und Kränze (Auf dem Friedhof), Öl auf Leinwand, 27 X 37 cm (Privatbesitz, Repr. Mü-Terem Galerie, Frühjahrsauktion 2002, Pos. 11)