Markója Csilla szerk.: Mednyánszky (A Magyar Nemzeti Galéria kiadványai 2003/2)

Csilla Markója: „Die Entfernung zwischen einem erhabenen und einem abscheulichen Gesicht". Über die außergewöhnliche Kunst des László Mednyánszky

der stimmungsmäßigen Intonierung begann bei beiden Künstlern mit der Neuinterpretation traditioneller ikono­graphischer Themen. Bei Millet handelte es sich darum, dass er die Kunstgattung des Genrebildes mit den klassischen Konventionen der historischen Malerei überschrieb. Seine eigentümlich hybride Schlussfolgerung ist die Figur des heroischen Bauern. Als Helden der Arbeit versammeln sich seine Bauern auf den Schlachtfeldern. Alle Zeitgenossen Millets wurden auf den Stil und den monumentalen Charakter des Themas aufmerksam, und sie gaben seinen Bildern die Beifügung „nach Art Michelangelos". 35 Mednyánszkys monu­mentales Frühwerk Unglück (Kat. 36), dessen Hauptmotiv er schon 1878 erwähnte („Ein armer Bursche verletzt. [... ] Fischer im Kampf gegen die Naturgewalt" 36 ), ist eigentlich eine gefühlvolle Genre-Bearbeitung des ikonographischen Typs Kreuzabnahme. Wie sich Mednyánszkys Schwester erinnerte, weilte der Bruder bei seinem Parisbesuch 1875 stun­denlang im Louvre. Dort könnte er die Kreuzabnahme Christi von Bassano, 37 ein in Einstellung und kompositorischer Lösung sehr ähnliches Werk, gesehen haben. Aber da es sich hier um einen weiterüberlieferten ikonographischen Typ handelt, spielt es keine Rolle, welches Vorbild Mednyánszky konkret verwendete. Über den muskulösen Fischerburschen beugt sich vermutlich die Mutter, während seine Liebste schluchzend über die Stuhllehne sinkt. Das Motiv des verletzten Fischers wuchert weiter in einer Folge von Bildern und Zeichnungen. In der Ausstellung unternehmen wir den Versuch, die innerhalb kurzer Zeit erfolgenden „Kreuzungen" und „Umkehrungen" dieses Motivs vorzustellen. Die Figur des verletzten Fischers bricht aus der Genrekomposition aus, und der ohnmächtige, geschundene Männerkörper erscheint für sich in der Komposition Sterbender Fischer (Kat. 37). Auf den Zeichnungen kommt er auch in der Pietà­Anordnung vor, oder in einer verblüffenden Wendung sind die Füße der liegenden Figur in einen Block geschlossen, und das Bild wandelt sich in eine Prangerszene. Hier begeg­nen wir erstmals der semantischen Mehrdeutigkeit der Motive Mednyánszkys, von der im folgenden noch ausführlicher die Rede sein wird. Interessant ist an dieser Stelle, dass der französische Maler Théodule Ribot (1823-1891) den ikonographischen Typ der Kreuzabnahme ebenfalls in eine Folterszene umwandelte. Wie bei Mednyánszky wird auch hier die Aufmerksamkeit auf die Füße des am Boden niedergesunkenen Mannes gelenkt, der Unterschied besteht nur darin, dass der Fuß des Inquisitionsopfers Alonso Cano in einen spanischen Stiefel gezwängt ist. 38 Das 1867 im Pariser Salon ausgestellte Werk von Ribot dürfte Mednyánszky natürlich nicht gesehen haben. Was sie verband, das war die gemeinsame Neigung zum extremen Naturalismus von Jusepe de Ribera. Und Ribera war auch für einen anderen Künstler sehr wichtig, nämlich für Millet. Damit kehren wir zur Verbindung zwischen Millet und Mednyánszky zurück. Der Name Michelangelos kommt nicht nur bei Millet, sondern auch in bezug auf Mednyánszky vor. Der slowakische Titel des Mednyánszky-Bildes Gefesselter Gefangener lautet Otrok und suggeriert, dass es sich auch um einen Sklaven handeln könnte. Obwohl sich Mednyánszky auf diesen frühen „mit Feuer beleuchteten" Bildern, von denen wir eine aus zwei Farbvarianten bestehende Serie kennen (Kat. 80, 81), nicht mehr so sehr um die anschauliche Plastik des Körpers bemühte, wäre es doch möglich, dass auch Michelangelos berühmte Sklaven unter den ikonographischen Vorbilder waren. Noch wahrscheinlicher ist, dass Mednyánszky hier nach dem ikonographischen Typ des hl. Sebastian arbeitete, von dessen Darstellungen er in Wien Den hl. Sebastian von Mantegna gesehen haben könnte. In Verbindung mit dem Thema des hl. Sebastian müssen wir jedoch noch etwas anfügen. Dieser ikonographische Typ war wegen der Schönheit des jungen Körpers, seiner ausgelieferten Gestalt und der verletzenden Pfeile (die in seinem Fall von Amors Pfeilen schwer zu abs­trahieren sind) stets auch mit unterdrückter Erotik erfüllt. Wir sollten nur an eine überaus schalkhafte Variante des Motivs denken: die „freie Umdichtung" des auch auf Mednyánszky Einfluss nehmenden Mihály Zichy, bei der sich der Betrachter an dem nackten Hinterteil der gefessel­ten Frauengestalt ergötzen kann (Abb. 12). Wie Millet bemühte sich auch Mednyánszky um eine Art Verklärung seiner Kunst. Nach Aussage seines Tagebuches kämpfte er ein Leben lang gegen seine körperlichen Gelüste an, die er vor allem für Männer hegte. In den mit griechischen Buchstaben verschlüsselten Niederschriften bezeichnet der Großbuchstabe À die „in die Tiefe ziehenden" Kräfte des Körpers. In den theosophischen Lehren fand Mednyánszky nicht nur Anhaltspunkte für die „Umkehrungen und Kreuzungen". Die große Liebe seines Lebens, den Schiffer aus Vác, Bálint Kurdi, erwählte er nach dessen frühen Tod (1906) zu seinem geis­tigen Führer. Seine Tagebuchaufzeichnungen, aus denen die diesbezüglichen Teile bei der ersten Ausgabe sorgsam entfernt wurden, richten sich eigentlich alle an Bálint Kurdi, sind Rechenschaftsberichte, Willensbekundungen oder Gebete für ihn. Schon die Zeitgenossen vermuteten Mednyánszkys Homosexualität. Gyula Pékár sprach 1920 in seinem Nekrolog von vielen schwarzen Meilensteinen „im verborgen gehaltenen Leben" Mednyánszkys, von seiner bizarren, an Widersprüchen reichen Innenwelt und von der „trostlosen Selbstanklage", die ihn ein ganzes Leben lang verfolgte. Eingehend beschrieb er, wie Mednyánszky vor jedem, auch vor ihm nach Vác geflohen sei, um seinen Bálint aufzusuchen. 39 Mednyánszky fuhr auch nach Kurdis Tod regelmäßig nach Vác und besuchte auf dem Vácer Friedhof das Grab seines Freundes. Das waren wahre Pilgerfahrten, bei denen er unzählige Friedhofsbilder László Mednyánszky: Soldat in Winterlandschaft, Öl auf Karton, 35 X 24 cm (Kieselbach Galerie, Herbstauktion 2002, Pos. 118) 10 László Mednyánszky: Dahinziehender Tross, Öl auf Leinwand, 81 X 98 cm (Privatbesitz)

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