Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 50. (2003) - 200 Jahre Russisches Außenministerium
LEITSCH, Walter: Die ersten 300 Jahre in den Beziehungen zu Österreich
Walter Leitsch Platz ganz oben einnehmen.7 Andererseits haben die Moskauer wiederum den Kaiserlichen in mancher Hinsicht eine Sonderstellung eingeräumt. Nach der Smuta bemühten sie sich um Anerkennung ihres Zaren Michail Fedorovic mit solcher Intensität, die nur verständlich ist, wenn man annimmt, dass dem Kaiser in den Augen der Moskauer in diesem Fall eine Wirkung als Vorbild zukam. Das war allerdings in dieser Zeit nicht der Fall. Vermutlich ging diese Einstellung auf die Anfänge der Beziehungen zurück, als die Kaiser Maximilian I. und Karl V. für eine Anerkennung dieser Art Vorbildcharakter haben konnten. Doch davon waren die Kaiser Rudolf II. und Matthias weit entfernt. Auch Historiker des 19. Jahrhunderts, so etwa S. M. Solov'ev und N. N. Bantys-Kamenskij haben den Beziehungen zu den Kaisern einen hohen Rang eingeräumt, der für manche Perioden nicht der Macht der Habsburger entsprach. Das Problem erlangte eine neue Qualität, als sich Peter der Große nach erfolgreichem Abschluss des sehr langen und schweren Krieges gegen Schweden in einem feierlichen Akt am 22. Oktober 1721 st. v. den Titel „Imperator Vserossijskij“, also Imperator aller russischen Länder zulegte.8 Jetzt gab es kein Ausweichen wie beim Titel Zar, jetzt forderte der Herrscher Russlands ganz bewusst einen Sitz in der ersten Reihe, die bisher dem Romanus Imperator allein Vorbehalten war. Wer dem Kaiser einen bösen Streich spielen wollte wie Preußen und die Vereinigten Niederlande, akzeptierte die Neuerung ohne Zögern. Die meisten beeilten sich nicht, eine alte bewährte Ordnung, die manches vereinfachte und niemandem wirklich wehtat, aufzugeben. Am interessantesten waren die Argumente der Engländer, bzw. Braunschweiger: Königin Anna habe zwar diesen Titel „également au Czar avec les Princes Barbares“ gegeben, doch man glaube nicht, die zarische Majestät wünsche „étre traitée sur ce pied et en egal avec ces Seigneurs de Marocco, Fetz, Tunis, Tripoli.“ Natürlich war es auch den Engländern nicht angenehm, dass ein - übrigens nicht geschätzter - Außenseiter an allen vorbeiläuft und sich in die erste Reihe setzt, während doch ihr König seinen Platz nur in der zweiten Reihe hatte. Doch hatten all diese Titel viel von ihrem ursprünglichen Glanz verloren, sodass nur der Habsburger echt betroffen war: Es kam ihm die Einzigartigkeit seines Titels abhanden. Dennoch schlossen Kaiser und Kaiserin 1726 einen Vertrag, weil es die politischen Umstände erforderlich machten. Der Altkaiser war bereit, zu tolerieren, dass die Neukaiserin den Titel verwende; er werde so tun, als merke er das nicht, „stillschweigende connivenz“ nannte man das. Der Altkaiser selbst hat jedoch der Neukaiserin den Titel nicht gegeben. Die weitbesten Fachleute für Halbheiten haben also einen Weg gefunden. Als man wieder einmal einander dringend brauchte, die 7 Szettel, Marc: The Title of the Muscovite Monarch up to the End of the Seventeenth Century. Canadian-American Slavic Studies 13 (1979), S. 1-2, S. 59-81; Meyer, K.: „Kayserliche gross- mächtigkeit“. Titulaturfragen bei den Verhandlungen zwischen Kaiser und Zar 1661/62. In: Zeitschrift für Ostforschung 12 (1963), S. 1-10. 8 Solov'ev, S. M.: Istorija Rossii s drevnejiiich vremen, Bd. 9, Moskva 1963, S. 321. 68