Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 48. (2000)
RAUSCHER, Peter – STAUDINGER, Barbara: Der Staat in der frühen Neuzeit. Überlegungen und Fragen zu aktuellen Neuerscheinungen der deutschen Geschichtswissenschaften
Reinhard verwendete Konzept der „politischen Kultur“, das im Folgenden kurz dargestellt werden soll. Mit politischer Kultur ist „das Ensemble der meist nicht mehr hinterfragten und daher selbstverständlich maßgebenden politischen Denk-, Rede- und Verhaltensmuster“ gemeint. Als prozessuales Ergebnis von Diskurs- und Handlungsstrategien ist sie wie alle Kultur aber keineswegs ein für allemal festgeschrieben, sondern als Bedeutungs- wie Handlungssystem flexibel und wandelbar (S. 19). Auf Grund des prozessualen Charakters politischer Kultur lehnt Reinhard den von Otto Hintze für die Verfassungsgeschichte verwendeten Idealtypus Max Webers „als zentrales heuristisches Instrument“ ab, ohne allerdings völlig auf Typenbildung verzichten zu wollen. Der vergleichende Ansatz strebt daher zwar nicht mehr nach Klärung des Einzelfalles durch Kontrastwirkung [...] sondern durchaus nach durch Abstraktion gewonnenen Allgemeinaussagen. Sie hat aber von der Philosophie (Hegel) wie der Ethnologie (Clifford Geertz) gelernt, daß es Allgemeines zwar gibt, aber immer nur in der Gestalt von Besonderem. Sie bleibt darauf angewiesen, es in seinen jeweiligen historischen Varianten aufzusuchen (S. 19 f.). So berechtigt dieser Ansatz ist, gerade für den Leser/die Leserin fallt seine Umsetzung nicht immer befriedigend aus. Die Konsequenz ist nämlich oft eine Addition der beschriebenen Phänomene in den verschiedenen Ländern nach dem Motto „in Frankreich war es so, in England war es so, in etc. war es so [...]“. Diese Form der Aufzählung vermindert die ansonsten recht flüssige Sprache des Buches zum Teil erheblich. Da die Darstellungen zudem oft unterschiedlich genau ausfallen, fühlt man sich zu einzelnen Länder mehr, zu anderen weniger informiert, ohne dass die Gründe für manche Schwerpunktsetzung klar werden. Zurück zur politischen Kultur. Dieses Konzept wird von Reinhard als ein brauchbares Konzept zur Erschließung der Interaktionen zwischen den einzelnen politischen Ebenen, die als „Mikro-Ebene“ der Individuen und Gruppen, der „Meso-Ebene“ des politischen Systems und der „Makro-Ebene“ der Gesellschaft bezeichnet werden38, vorgestellt (S. 20-26). Reinhards Verfassungsgeschichte versteht sich offenbar als Geschichte der oben definierten „politischen Kultur“, die drei unterschiedliche theoretische Ebenen miteinander verknüpft. Als Teil dieser Kultur spielen rechtliche Kategorien bei diesem Konzept nur noch eine untergeordnete Rolle. Der Versuch, die Gründe und Mechanismen für die Entstehung der staatlichen Ordnung in Europa weit über den engeren rechtlich-politischen Rahmen hinaus zu spannen, erscheint uns, um dies vorwegzunehmen, als ein großes Verdienst dieses Buches. Mit einem traditionellen verfassungs- und verwaltungsgeschichtlichen Ansatz hat dies freilich im Grunde nichts mehr gemein. Völlig deutlich wird dies durch den geringen Raum, den bei 38 Der Autor fasst hier ein Modell zusammen, dass er vor einigen Jahren bereits ausführlicher dargelegt hat. Reinhard, Wolfgang: Das Wachstum der Staatsgewalt. Historische Reflexionen. In: Der Staat 31 (1992), S. 59-75, Wiederabdruck in derselbe: Ausgewählte Abhandlungen. Berlin 1997 (Historische Forschungen. Bd. 60), S. 231-247. 422 Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 48/2000 - Rezensionen