Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 48. (2000)
RAUSCHER, Peter – STAUDINGER, Barbara: Der Staat in der frühen Neuzeit. Überlegungen und Fragen zu aktuellen Neuerscheinungen der deutschen Geschichtswissenschaften
Wenn auch die Modernität des Reichstag hier vielleicht etwas übertrieben scheint, so liegt solchen Überlegungen die Bewertung des Reichs als föderales System zu Grunde, das oberhalb der Territorial Staaten wichtige gesamtstaatliche* Funktionen wahmahm und sich dadurch zumindest partiell dem neuzeitlichen Staateneuropa einzufiigen wußte. Diese Struktur war allerdings das Ergebnis einer „politisch-verfassungsrechtlichen Teilmodemisierung (S. 141), die sich, so Schilling, vom 14. bis zum 17. Jahrhundert erstreckte. Inwieweit es sinnvoll erscheint, von einer Modernisierung über Jahrhunderte hinweg zu sprechen, erscheint allerdings fraglich. Neben dem Fortbestand des Alten Reichs als „vorstaatlichen Verband“ und der territorialen Landesherrschaft, die in der Neuzeit „mit dem Reich um die moderne Staatsbildung konkurrierte und zur Einzel- oder gar Seperatstaatlichkeit drängte“ (S. 131) war es nach Schilling die Multikonfessionalität, die das „neuzeitliche Deutschland“ in jeder Hinsicht prägte und weshalb es in gewisser Weise einen „Sonderfall“ innerhalb der europäischen Geschichte darstellte, da andere Charakteristika des Reichs, wie Regionalismus und Ständetum, ja den Großteil der europäischen Staatenwelt prägten, wenn auch vielleicht nicht in dieser extremen Form. Die besonderen Ursachen für diesen „Sonderweg“ des Reichs beschreibt auch Reinhard.16 Interessant an der Darstellung Reinhards ist die Trennung zwischen Reich und Territorien durch jeweilige Kapitel, wodurch die Struktur des Reichs besser zum Ausdruck kommt. Ebenso wie Schmidt ist es allgemein ein recht positives Bild, das Schilling - mit den nötigen Einschränkungen - vom Reich zeichnet, das durch seine Verfassung Frieden, Recht und innere Ruhe garantieren konnte: Ohne die Schwächen dieser Lösung zwischen verfehlter Reichsstaats- und gebremster Territorialstaatsbildung zu leugnen, erscheint es in europageschichtlich-vergleichender Perspektive geradezu geboten, nach Jahrhunderten anachronistischer Reichskritik aus der macht- und nationalstaatlichen Perspektive des 19. und 20. Jahrhunderts Stimmen zu Wort kommen zu lassen, die wie der große Polyhistor Gottfried Wilhelm Leibniz die positiven Seiten zu würdigen wußten (S. 143). Dieses Reichsbild spiegelt die positive Umwertung des nicht-expansiven neuzeitlichen Reichs in der deutschen Forschung nach den Katastrophen zweier verlorener Weltkriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder. Ob und inwieweit dieses Bild des Reichs vielleicht zu sehr den Hoffnungen der Kriegs- und Nachkriegsgeneration auf eine „bessere“ deutsche Geschichte Ausdruck verleiht, werden künftige Forschungen zeigen müssen. Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 48/2000 - Rezensionen 16 Reinhard : Geschichte, S. 52-55. 412