Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 48. (2000)
GRÖBL, Lydia – HÖDL, Sabine – STAUDINGER, Barbara: Steuern, Privilegien und Konflikte. Rechtsstellung und Handlungsspielräume der Wiener Juden von 1620 bis 1640. Quellen zur jüdischen Geschichte aus den Beständen des Österreichischen Staatsarchivs
Lydia Gröbl - Sabine Hödl - Barbara Staudinger Kantor und Vorbeter, einen Schulklopfer, einen Fleischhauer sowie einen Gemein- deschreiber zu ernennen.126 Hierbei handelte sich nicht nur um einen reinen Anerkennungsakt der Juden als organisierte und institutionalisierte Gruppe innerhalb der Stadt, sondern auch um die Festlegung eines genau deklarierten Rechtsstatus, der für alle in Wien lebenden Juden Gültigkeit hatte. Neben diesen allgemeinen Regelungen waren für die einzelnen Familien der Gemeindemitglieder Einzelprivilegien von großer Bedeutung. Nur Juden, die für den Landesherm auf Grund ihrer finanziellen Möglichkeiten oder ihrer Handelstätigkeit von Interesse waren, erhielten Freibriefe. Mit dem Regierungsantritt Ferdinands II. ist eine inhaltliche Erweiterung mit verschiedenen Abstufungen je nach Bedeutung und sozialem Stand der Privilegienempfanger sowie eine Formalisierung der Privilegientexte festzustellen. Wie bereits erwähnt wurden vermehrt Privilegien nach der Supplikation der Juden vom Februar 1620 ausgestellt. In die einzelnen Privilegien flössen auch jene Punkte des Bittschreibens mit ein, die im Patent für die gesamte Wiener Gemeinde nicht aufscheinen. Vor allem die Hofbefreiungen für Juden, die bereits unter Rudolf II. vermehrt ausgegeben worden waren, wurden ein wesentliches Instrument der Judenpolitik Ferdinands II. Er schuf damit eine Gruppe von ihm direkt unterstellten und von ihm abhängigen finanziell und wirtschaftlich potenten Personen, auf die andere Kräfte im Land wie die Landstände oder die Stadt Wien kaum Einfluss nehmen 126 Patent Ferdinands II., 25. Juli 1620, AVA, Salbuch Nr. 27, fol. 530v—531v. Druck bei Pribram: Urkunden (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 58 f., Nr. 37. Ein Schulklopfer hatte die Aufgabe, die Leute in die Synagoge zum Gottesdienst zu rufen. Ein Fleischhauer wurde benötigt, um ein den Religionsgesetzen entsprechendes Fleisch zur Verfügung zu stellen. Der erwähnte „große Bann und Fluch“ war neben Sanktionsmitteln wie der Auferlegung von Strafgeldern, einer Konfiskation oder der Übergabe einer Person an die weltlichen Behörden, ein wesentliches Sanktionsmittei innerhalb einerjüdischen Gemeinde. Es gab den nidui, den Bann, der einen zeitweiligen Ausschluss aus der Gemeinde nach sich zog. Der herem, der große Bann, zog einen vollkommenen Ausschluss aus der Gemeinde nach sich und konnte nur durch die völlige Reue und die Unterwerfung des Schuldigen gelöst werden. Dies bedeutete nicht nur die Untersagung der Teilnahme an religiösen Aktivitäten, so daß auch Beschneidungen und Eheschließungen in dieser Familie nicht mehr möglich waren, sondern eine gänzliche soziale Isolation. Der Gebannte verlor damit den Platz in und den Schutz der jüdischen Gesellschaft. Siehe hierzu ausführlich Katz, Jacob: Tradition and Crisis. Jewish Society at the End of the Middle Ages. Translated and with an Afterword and Bibliography by Bernard Dov Cooperman. New York 1993, S. 84 f.; Jütte, Robert: Ehre und Ehrverlust im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Judentum. In: Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hrsg. von Schreiner, Klaus - Schwerhoff, Gerd. Köln-Weimar-Wien 1995, S. 144-165, hier S. 161 f.; Jüdisches Lexikon, Bd. 1. Frankfurt/M. 2. Aufl. 1987, Sp. 705-707; To c h , Michael: Mit der Hand auf der Thora: Disziplinierung als internes und externes Problem in den jüdischen Gemeinden des Spätmittelalters. In: Disziplinierung und Sachkultur in Mittelalter und früher Neuzeit, hrsg. von Gerhard Jaritz. Wien 1998, S. 155-168, hier S. 158. 170