Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 46. (1998)
EMINGER, Stefan: Gewerblicher Mittelstand in Österreich Zur Zeit der großen Depression. Organisation, Interessenpolitik und politische Mobilität im Gewerbe 1930–1938
Gewerblicher Mittelstand in Österreich 1930 - 1938 abhängig gemacht, Repräsentanten des Gewerbes in das Parlament zu entsenden.* 43 44 Vereinzelt wurde auch versucht, durch Drohungen mit Geschäftssperren, Arbeiterentlassungen oder Steuerstreiks die Berücksichtigung gewerblicher Interessen zu erzwingen. Der Einsatz derartiger Machtmittel erfolgte jedoch meist nur von seiten einzelner Genossenschaften oder lokaler Verbände und blieb ebenso wie die Ankündigung, das Gewerbe werde im Falle weiterer Mißachtung seiner Wünsche zur „Selbsthilfe“ greifen, ohne konkrete Folgen.45 Wesentlich erschwert wurde eine erfolgreiche Vertretung gewerblicher Interessen durch den Umstand, daß es den Spitzenorganisationen nicht gelang, die vielfach disparaten Anliegen ihrer Klientel in ein klares Konzept umzuformen. Die unter dem Eindruck der Großen Depression produzierten Forderungskataloge der Gewerbeverbände waren anlaßbezogen und inkonsistent. Sie ließen weder Perspektiven für eine zukünftige Wirtschaftsgestaltung erkennen, noch gründeten sie auf einer eigenständigen Krisenanalyse, welche die Rolle des Gewerbes in einer bereits hochkapitalisierten Gesellschaft mitreflektiert hätte. So fand beispielsweise der Kampf bürgerlicher Schichten für Lohn- und Sozialabbau gerade im Gewerbe seine engagiertesten Mitstreiter46, obwohl bereits vor Einsetzen der Weltwirtschaftskrise nahezu die Hälfte aller Gewerbetreibenden ohne familienfremde Hilfekräfte arbeitete. Andere Forderungen des Gewerbes widersprachen einander. Verlangte man einerseits einen rigorosen Sparkurs der Regierang mit dem Ziel, die Steuern zu senken und das Budget zu sanieren, so implizierten andererseits die gleichzeitig gewünschten Maßnahmen zur Förderung des „Mittelstandes“ eine Erhöhung der Staatsausgaben.47 Kreditpolitisch fand das Gewerbe ebenfalls keine klare Linie. Die in breiten Schichten massiv verlangte Senkung des Nationalbank - Zinsfußes, wovon man sich eine Belebung des gewerblichen Kreditwesens versprach,48 wurde von den Vertretern der Handelskammern und des Niederösterreichischen Gewerbevereins nicht mitgeDie Jahresversammlungen der im Tiroler Handels- und Gewerberate vereinigen Organisationen. Die ordentliche Verbandsversammlung des Landeshauptverbandes der Gewerbeverbände und Gewerbegenossenschaften für Tirol und die Hauptversammlung dese Tiroler Handels- und Gewerbebundes (Hagebundes) am Sonntag, den 20. Februar 1927, im Hotel „Maria Theresia“ in Innsbruck. Innsbruck 1927, S. 89-91, 101, 102, 110; ÖGZ 41 (27. April 1929), S. 6; ÖGZ 42 (8. November 1930), S. 1. 43 Alpenländische Handwerker-Zeitung. Unabhängige Monatsschrift für den schaffenden Handwerker. Graz 1 (Juli 1929), S. 6; Arbeiter-Zeitung (19. Jänner 1931); AdR, ParteiA/CSP, Parlamentsklub, Kt. 68, Mappe Gewerbe, Schreiben des Aktions-Ausschusses der Handels- und Gewerbetreibenden des politischen Bezirks Graz-Umgebung an die christlichsozialen Nationalräte vom 29. 12. 1931; AdR, Bundeministerium für Finanzen, Steuersektion, GZ 5.974/1932, Kt. 2578, Steiermärkische Landesregierung, Steuerdemonstrationen; AH GZ 15 (24. Juni 1933), S. 3. 46 Zu den Krisenlösungsvorstellungen bürgerlicher Schichten: März, Eduard -Weber, Fritz: Österreichische Wirtschaftspolitik in der Zeit der Großen Krise. Bürgerliche Strategie und sozialdemokratische Alternative. In: F r ö s c h 1 -Zoitl (Hrsg.): Februar 1934, S. 15-33,hier S. 17-19. 47 ÖGZ 42 (15. März 1930), S. 1 f.; AdR, ParteiA/CSP, Parlamentsklub, Kt. 69, Mappe Gewerbe, Gewerbeordnung 1933, Notprogramm des HVGVÖ vom 16.10.1932. 48 AdR, BMfHuV/allg., Sign. 501, GZ 137.880/1931, Forderungen des österreichischen Gewerbestandes. 7