Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 46. (1998)
EMINGER, Stefan: Gewerblicher Mittelstand in Österreich Zur Zeit der großen Depression. Organisation, Interessenpolitik und politische Mobilität im Gewerbe 1930–1938
Stefan Eminger tragen. Die Wiederherstellung der Goldparität der österreichischen Währung hatte für diese Kreise Vorrang.49 Einigkeit herrschte im Gewerbe dagegen in der Ablehnung des „agrarischen Kurses“ der bürgerlichen Regierungen sowie in der handelspolitischen Ausrichtung nach Deutschland. Erst nach dem Scheitern der Zollunionspläne Schobers 1931 forderten Gewerbevertreter der Wiener Handelskammer ein Abgehen von dieser einseitigen Orientierung.* 30 Der verlangte Kurswechsel wurde vorerst aber nicht einmal in Kammerkreisen überall mitvollzogen. Die Länderkammern von Salzburg, Kärnten und Tirol hielten bis etwa Anfang 1934 an ihrer Ausrichtung nach Deutschland ebenso fest wie die alpenländischen Hagebünde.31 Politische Mobilität und ordnungspolitische Vorstellungen im Gewerbe bis 1933/34 Die politisch - ökonomische Krise in den frühen Dreißigern führte im Gewerbe in mehrfacher Hinsicht zu Desintegrationserscheinungen. Auf parlamentarischer Ebene waren davon der Heimatblock, ganz besonders aber die Christlichsoziale Partei betroffen, und auf der Ebene der Verbandspolitik richtete sich der Unmut vieler Gewerbetreibender gegen Spitzenfünktionäre des HVGVÖ und zum Teil auch gegen die Wiener Handelskammer. Die Formen, in denen der Protest artikuliert wurde, waren im Gewerbe durchaus unüblich. Gewerbetreibende gingen zu tausenden auf die Straße, in vielen Teilen Österreichs wurden sogenannte „Nottagungen“ abgehalten. Die Stimmung auf diesen Versammlungen war mitunter ungewöhnlich aggressiv, Verbalattacken auf Regierungsmitglieder waren keine Seltenheit.32 Vor diesem Hintergrund wurde im Gewerbe aber auch nach Mitteln und Wegen gesucht, die gewerblichen Forderungen effektiver vertreten zu können. Mehrere Lösungsansätze kristallisierten sich dabei heraus. Zum einen wurden ordnungspolitische Alternativen erörtert. Die parlamentarische Demokratie war in weiten Teilen des Gewerbes diskreditiert, vielfach wurde das Regierungssystem für die krisenhafte Situation zumindest mitverantwortlich gemacht. Primär ging es vielen Gewerbetrei49 Sitzungs- und Geschäftsberichte der Kammer für Handel, Gewerbe und Industrie in Wien. Geschäftsbericht März 1932; Österreichs Wirtschaft 93 (28. Juli 1932), S. 551; WKW, Registratur, Sektionsprotokolle, Verhandlungsschrift der 4. Sitzung des Arbeitsausschusses für Währungs- und Devisenfragen vom 9. 3. 1932. 30 WKW, Registratur, Protokolle Präsidialkonferenz 63-73, 1931-1932, 65. Präsidialkonferenz am 18.11.1931, S. 6; vgl. auch Fischer, Peter G.: Die österreichischen Handelskammern und der Anschluß an Deutschland. Zur Strategie der „Politik der kleinen Mittel“ 1925 bis 1934. In: Das Juliabkommen von 1936. Vorgeschichte, Hintergründe und Folgen. Wien 1977, S. 299-314, hier S. 312. 31 WKW, Registratur, Protokolle Präsidialkonferenz 74-83, 1932-1933, 74. Präsidialkonferenz am 26.7.1932, S. 5 f.; AH GZ 14 (16. Juli 1932), S. 4. 32 Dieses Bild vermittelt die laufende Berichterstattung in der Gewerbepresse 1932/33; Matti: Gewerbeproteste, S. 51-54; AdR, BKA/Allg., SR, Sign. 15/3, GZ 119.058/1933, Kt. 2446, Landeshauptverband der Bezirksverbände und Gewerbegenossenschaften des Landes Salzburg, Versammlung am 12.2.1933; Ebenda, GZ 123.590/1933, Kt. 2446, Protestversammlung („Nottagung“) der Handels- und Gewerbetreibenden in Wr. Neustadt vom 23. 2. 1933. 8