Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 44. (1996)

ANGELOW, Jürgen: Der Zweibund zwischen politischer Auf- und militärischer Abwertung (1909-1914). Zum Konflikt von Ziel, Mittel und Struktur in Militärbündnissen

Der Zweibund zwischen politischer Aufwertung und militärischer Abwertung Ungarn kühl im Blick behielten130. Dazu traten die Widerstände der militäri­schen Technokraten. Eine starke Fraktion von Abteilungsleitern des deutschen Generalstabs weigerte sich nämlich, nach Vorstößen der in die Planung einge- weihten Politiker, das vermeintliche „Siegesrezept“ Schlieffens, der im Gene­ralstab ein beinahe mystisches Ansehen genoß, umzustoßen und politische sowie militärische Erfordernisse in Übereinstimmung zu bringen. Staatssekretär Gott­lieb von Jagow, der im Januar 1913 Nachfolger Alfred von Kiderlcn-Wächters geworden war, hatte sich nach Kenntnis des Schlieffenplanes und des deutsch- österreichisch-ungarischen Generalstabsvertrages von 1909 gegen diese angebli­chen „Siegesrezepte“ gewandt. Jagow schien die Schwerpunktsetzung des deut­schen Aufmarsches im Westen widersinnig. Deshalb drängte er Anfang 1913 Moltke d. J., diese zu revidieren. Beide scheiterten aber am geschlossenen Wi­derstand der Abteilungsleiter des deutschen Generalstabes131. Nachweisbar un­terhielt Schlieffen auch nach seiner Verabschiedung am 1. Januar 1906 bis zu seinem Tode am 4. Februar 1913 rege Kontakte zu einigen Mitarbeitern im Generalstab, insbesondere zu Hugo Freiherr von Freytag-Loringhoven (Leiter der kriegsgeschichtlichen Abteilung I von 1904-1907 und Oberquartiermeister beider kriegsgeschichtlicher Abteilungen von 1910-1913), Hermann von Kühl (Chef der dritten Abteilung „Frankreich/England“ von 1906-1912), Konrad von Hausmann (Obcrquarticrmeister Schlieffens) und Hermann von Zwehl. Jeder Generalstabsoffizier, der befördert wurde, mußte sich bei seinem ehemaligen Chef melden132. So wirkten innerhalb der militärischen Elite Loyalitätsbindun­gen fort, die eine interne Kritik oder gar Revision der von Schlieffen aufgestell­ten Dogmen erschwerten, wenn nicht gar verhinderten. Da sich zudem Reichs­kanzler Bethmann-Hollweg nicht in die militärische Planung einmischte und Wilhelm II. - angesichts seiner mangelhaften persönlichen Disposition - die politische und die militärische Gewalt nicht miteinander koordinieren konnte133, war am Vorabend des Ersten Weltkriegs der Primat der Politik in Deutschland stark eingeschränkt. Mit dem Schlieffenplan und seiner westlichen Schwerpunktsetzung ließ sich die operative Planung des österreichisch-ungarischen Verbündeten nur schwer in Übereinstimmung bringen, da sic von zum Teil divergierenden strategischen Zielstellungen ausging. Seit dem Amtsantritt Becks 1881, vor allem seit Auf­nahme militärischer Kontakte zum deutschen Generalstab 1882 war die österrei­chisch-ungarische Aufmarschplanung von dem Glauben an eine wirksame mili­tärische Entlastung der eigenen strategischen Position durch eine deutsche Of­130 Hildebrand, Klaus: Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler 1871-1945. Stuttgart 1995, S. 304 f. 131 V e r o s t a : Theorie und Realität von Bündnissen, S. 428 f. 132 Otto: Schlieffen und der Generalstab, S. 66. 133 Vgl. Deist: Militär, Staat und Gesellschaft, S. 1—18; Erdmann, Karl-Dietrich: Der Erste Weltkrieg. München 1982 (Handbuch der deutschen Geschichte 18), S. 20, 34 und 176. 63

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