Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 44. (1996)

ANGELOW, Jürgen: Der Zweibund zwischen politischer Auf- und militärischer Abwertung (1909-1914). Zum Konflikt von Ziel, Mittel und Struktur in Militärbündnissen

Jürgen Angelow fensive gegen Rußland ausgegangenm Da diese Zusicherung deutscherseits niemals zurückgenommen wurde, hielt Wien folgerichtig an ihr fest. Der deut­sche Generalstab hatte ursprünglich einen Vorstoß auf Grodno innerhalb von zehn Tagen versprochen, während das Gros der deutschen Kräfte in einem Stoß auf dem rechten Weichselufer in Richtung Nowogeorgiewsk angesetzt war. Beck konnte davon ausgehen, daß bei dieser ursprünglichen deutschen Planung bereits am 30. Mobilmachungstag Narew und Bug überschritten und zehn Tage später Warschau gefallen sowie Brest erreicht sein würde. Nach den Berechnungen Becks vom November 1882 drohte die österreichisch-ungarische Armee jedoch wegen der Langsamkeit ihres Aufmarsches lediglich zu einer Reservearmee bei der geplanten Zangenoperation in Polen zu werden. Die vollständige Versamm­lung der österreichisch-ungarischen Armee in Galizien nahm mindestens 33 Tage in Anspruch, ihre Konzentration weitere zehn bis zwölf Tage. Erst am 45. Mobilmachungstag war sie in der Lage, die russische Grenze zu überschreiten. Zu diesem Zeitpunkt hätten die Deutschen nach Auffassung Becks Warschau bereits eingenommen und die Schwenkung in Richtung Njemen vollzogen. Durch Inangriffnahme neuer Bahnlinien in Galizien und die Vereinfachung der Mobilmachungstechnik gelang es Beck allerdings, die Aufmarschfristen rapide zu verkürzen, so daß nach den Berechnungen vom November 1883 bereits am 20. Mobilmachungstag eine Offensive gegen Lublin in Gang gesetzt werden konnte. Weitere Fortschritte im Bahnausbau und der Einbeziehung bereits vor­handener Bahnen führten zu einer Flexibilisierung des österreichisch- ungarischen Aufmarsches in den 80er Jahren. Die Zangenoperation in Polen, die nach Auffassung Lothar Höbelts vor 1886 ein einseitiges Unternehmen darge­stellt hätte, nahm somit erst Ende der 80er Jahre konkrete Gestalt an. Doch zu diesem Zeitpunkt hatten sich inzwischen auch die Aufmarschfristen der Russen entscheidend verkürzt, sodaß das Überraschungsmoment entfiel. Weiterhin konnte durch die schrittweise Reduzierung der deutschen Kräfte im Osten und die Verstärkung der russischen Verbände in Polen seit den 80er Jahren nicht mehr von einer zahlenmäßigen Überlegenheit der Zweibundmächte auf dem östlichen Kriegsschauplatz ausgegangen werden. Dazu kamen die neu errichte­ten Befestigungen am Narew, die zu einer Verlangsamung des deutschen An­griffs führen mußten. Die ursprünglich so vielversprechende „polnische Zange“ hatte sich Anfang der 90er Jahre in einen Vorteil für die Russen verwandelt, die mit überlegenen Kräften auf der inneren Linie operieren konnten. Vor diesem Hintergmnd sind die Verhandlungen zwischen Schlieffen und Beck von 1892 bis 1897 zu bewerten, die schließlich zum Rückgriff auf die von beiden Seiten als verfehlt angesehenen Planungen führten. Das 1897 verfaßte österreichisch-ungarische Aufmarschelaborat gegen Ruß­land trug deshalb der Erkenntnis Rechnung, im Osten selbständig operieren zu müssen Es bildete bis 1906, dem Jahr des Abgangs Becks, die Grundlage aller 134 134 Hobelt: Schlieffen, Beck, Potiorek und das Ende der gemeinsamen Aufmarschplanung, S. 10-12. 64

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