Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 44. (1996)
ANGELOW, Jürgen: Der Zweibund zwischen politischer Auf- und militärischer Abwertung (1909-1914). Zum Konflikt von Ziel, Mittel und Struktur in Militärbündnissen
Jürgen Angelow vom 31. Dezember 1905, die als militärisches Vermächtnis seinem Nachfolger im Februar 1906 übergeben wurde, festgehalten worden98. Der militärische Gehalt des Schlieffenplanes in seiner Fassung von 1905/06 wurde bereits von Gerhard Ritter analysiert, der die technische Anlage des Planes und seinen Umfang sowie die sorgfältige Beachtung der taktischen und strategischen Details hervorhob99, den Plan aber als ein „kühnes, ja überkühnes Wagnis“ bezeichnete, „dessen Gelingen von vielen Glückszufällen abhing“ 10°. In seinem Vorwort zur englischen Ausgabe von Ritters Buch bezeichnte Liddell Hart den Schlieffenplan als ein Konzept von napoleonischer Kühnheit101. Die Hinterlist des Schlieffenplanes habe vor allem in seiner unvermutet starken Defensivkraft gelegen: Wenn eine französische Offensive den linken Flügel in Richtung zum Rhein Zurückschlagen würde, dann wäre der Angriff auf die französische Flanke durch Belgien um so schwieriger abzuwehren. Es wäre wie eine Drehtür, denn wenn jemand stark auf eine Seite drückt, schnellt die andere Seite herum und trifft ihn im Rücken. Hierin liegt die wirkliche Hinterlist des Plans, nicht in der bloßen geographischen Umgehung1 °2. Militärische Voraussetzung des Gelingens blieb die Verteidigung des lebenswichtigen Angelpunktes Metz. Die militärisch-technische Kritik des Schlieffenplanes bezog sich auf den Einwand, daß während die deutschen Truppen „auf eigenen Füßen um die Peripherie des Kreises marschieren müßten, ... die Franzosen in der Lage sein (würden), Truppen mit der Eisenbahn durch eine Kreissehne einzuschalten“103. Ferner würde die durch Belgien vorrückende deutsche rechte Flanke durch zerstörte Eisenbahngleise und -brücken sehr behindert sein. Ritter kritisierte die technische Starrheit des Planes, der sich deutlich von den flexiblen Methoden des älteren Moltke unterschieden habe. Schlieffen habe zudem die Verteidigungs- und Angriffskraft des Gegners falsch bewertet104. Außerdem sei er bei dem Unternehmen enorme politische und militärische Risiken eingegangen, obwohl ihm dessen Erfolg zweifelhaft schien105. Im Plan tauchten acht Armeekorps auf, die nicht vorhanden waren106 *. Schlieffens Kritiker heben weiter das unkalkulierbare politische Risiko der geplanten Neutrali- tätsvcrletzungen hervor, von denen seit Mai 1900 alle deutschen Reichskanzler - auch Bernhard von Bülow, der es später leugnete - unterrichtet waren, ohne 98 Denkschrift Alfred Graf von Schlieffens, 31. Dezember 1905 (im Januar 1906 fertiggestellt) siehe Ritter: Der Schlieffenplan, S. 145-174; vgl. auch T u r n e r, L. C. F.: The Significance of the Schlieffen Plan. In: Kennedy, Paul M (Ed.): The War Plans of the Great Powers 1880-1914. London 1979, p. 199-221. 99 Ritter: Der Schlieffenplan, S. 47 f. 100 Ebenda, S. 68. 101 Liddell H a r t, B. H.: Vorwort. In: Ritter, Gerhard: The Schlieffen Plan. New York 1958. 102 Derselbe:A History ofthe World War 1914-18. 2. Aufl. London 1934, p. 68 seq. 103 Siehe Fußnote 101. 104 R i tt e r : Der Schlieffenplan, S. 53. 105 Ebenda, S. 47-81. 106 Wallach, Jehuda: Das Dogma der Vemichtungsschlacht. Die Lehren von Clausewitz und Schlieffen und ihre Wirkungen in zwei Weltkriegen. Frankfurt am Main 1967, S. 94. 56