Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 44. (1996)
ANGELOW, Jürgen: Der Zweibund zwischen politischer Auf- und militärischer Abwertung (1909-1914). Zum Konflikt von Ziel, Mittel und Struktur in Militärbündnissen
Der Zweibund zwischen politischer Aufwertung und militärischer Abwertung Dogma erhobenen Westaufmarsches. Damit statuierte er ein bündnispolitisches Dilemma, da er den sofortigen Einsatz der Masse des deutschen Heeres gegen das gefährlichere und schneller operationsbereite Frankreich plante, gleichzeitig aber auf eine starke militärische Präsenz im Osten verzichtete, die das konstituierende Element der führenden Rolle Deutschlands und einer realistischen militärischen Zusammenarbeit im Zweibund gewesen wäre. Diese Problematik hatte ihren Ausdruck in den bereits beschriebenen ernsten Kommunikationsproblemen zwischen den beiden verbündeten Generalstäben gefunden. Da der österreichisch-ungarische Generalstab um die Schwerpunktverschiebung des deutschen Aufmarsches wußte und über den Schlieffenplan auch in der Folge grob orientiert blieb, mußte ihm das Problem bekannt gewesen sein, daß die Deutschen die versprochene starke Offensive in Ostpreußen eigentlich gar nicht unternehmen konnten. Damit war in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts die Basis einer gemeinsamen Planung faktisch entfallen. Jeder Partner hatte sich folglich auf zwei vollkommen getrennten Kriegsschauplätzen im Osten auf seine eigenen Kräfte zu verlassen und dabei zu beachten, daß der Zweibund in militärischer Hinsicht die Grenzen eines traditionellen Bündnisses - wie es von Clausewitz beschrieben worden war96 - nicht durch übermäßige Anspannung des einen zugunsten des anderen Partners sprengen würde. Schlieffen vertrat den für Wien mit großen Schwierigkeiten verbundenen Standpunkt, daß Österreichs Schicksal nicht am Bug, sondern an der Seine entschieden würde. Erst ein deutscher Sieg über Frankreich würde die Voraussetzung für die Verlegung starker deutscher Kräfte nach Osten zur Durchführung einer großen Offensive gegen Rußland und damit für den Enderfolg Österreich- Ungarns bieten. Damit war das Problem der unterschiedlichen strategischen Grundpositionen beider Partner auf den Punkt gebracht, das eine beide Seiten zufriedenstellende operative Planung von vornherein erschwerte. Der deutsche Generalstabschef sah vor, zunächst Frankreich in einer Umfassungsschlacht von gigantischem Ausmaß zu besiegen. Im Westen plante er, den rechten deutschen Flügel die Neutralität Hollands, Belgiens und Luxemburg verletzen und die Maas nördlich von Lüttich überqueren zu lassen97. Danach war die holländische Provinz Limburg zu durchqueren und Dünkirchen zu erreichen. Zur Markierung von Antwerpen waren Truppen zurückzuhalten. Die Front Verdun-Dünkirchen sollte von 35 Armeekorps angegriffen werden, während fünf in Metz stationierte Korps die Franzosen in Lothringen festzuhalten hatten. Wichtig für den Verlauf der Operation war es, einen äußerst starken rechten Flügel zu bilden, der ausreichenden Druck auf die umfaßte französische linke Flanke ausüben und diese zum ständigen Rückzug entlang der Flüsse Maas, Aisne, Somme, Oise, Marne und Seine zwingen konnte. Diese Gedanken sind in der Denkschrift Schlieffens 96 Clausewitz, Carl von: Vom Kriege. Hinterlassenes Werk. Berlin 1991, S. 671-674 (Einfluß des politischen Zweckes auf das kriegerische Ziel). 97 Zum Schlieffenplan siehe Ritter: Der Schlieffenplan. 55