Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 44. (1996)
ANGELOW, Jürgen: Der Zweibund zwischen politischer Auf- und militärischer Abwertung (1909-1914). Zum Konflikt von Ziel, Mittel und Struktur in Militärbündnissen
Jürgen Angelow gung des Schwerpunktes des deutschen Aufmarsches in Westrichtung bei gleichzeitiger Orientierung der deutschen und der österreichisch-ungarischen Kräfte auf eine mit unterlegenen Mitteln durchzufiihrende Teiloffensive im Osten hatte Schlieffen einer erfolgversprechenden gemeinsamen Planung beider Zweibundpartner die Grundlage entzogen. Seit Schlieffens Denkschrift vom Juli 1894 war die deutsche Aufmarschplanung endgültig und unwiderruflich von der operativen Idee einer strategischen Offensive im Westen bei gleichzeitiger Defensive im Osten geprägt. Damit befand sich der Schlieffenplan im Widerspruch zu den gültigen Vereinbarungen zwischen dem deutschen und dem österreichisch-ungarischen Generalstab. Die politische Grundidee der von Schlieffen bis 1912 ständig weiterentwickelten Planung” beruhte auf der politischen Kultur in Deutschland nach 1871, auf der Unfähigkeit, die 1871 annektierten französischen Gebiete dauerhaft im Reich zu integrieren. Die aus dieser Schwäche resultierende Verfestigung der Konilikthal- tung gegenüber Frankreich korrespondierte mit der Strategie, innenpolitische Legitimitätseinbußen der etablierten Herrschaftssysteme durch außenpolitische Kompensationsmechanismen zur Restabilisierung von Herrschaft auszugleichen93 94. Eine stabile Annäherungs- und Versöhnungspolitik im Westen blieb unter diesen Vorzeichen geradezu unerwünscht. Militärische Gründe des Schlieffenplanes lagen in den antifranzösischen Bedrohungsperzeptionen, die sich seit 1885 infolge der Neuorientierung der französischen Politik von kolonialen auf nationale Ziele in Europa aber auch dem französischen Wehrdienstgesetz vom 17. Juli 1889 zu verfestigen begannen. Das französische Wehrdienstgesetz war dem deutschen Wehrpflichgesetz vom 1. April 1888 gefolgt, das sich wiederum auf die französische Heeresreorganisation seit 1886 unter Kriegsminister Ernest Boulanger bezog. Da dieser die deutsche Heeresverstärkung des zweiten Septennats vom 1. April 1881 vorausging, wird deutlich, wie sich bereits in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts Rüstung und Gegenrüstung gegeneinander aufschaukelten. Mit dem Abschluß des französisch-russischen Bündnis vom 17. August 1892 unterlagen die deutschen Bedrohungsperzeptionen gegenüber Frankreich schließlich einer ausschlaggebenden Steigerung. Zu der sich nunmehr fest abzeichnenden Zweifrontensituation kamen schließlich die bereits genannten Zweifel Schlieffens, ob die in den 80er Jahren mit dem österreichisch-ungarischen Gencralstab geplante „Einschnürung“ der Russen im „polnischen Sack“ möglich sei95, weshalb die Entscheidung zuerst im Westen gesucht werden sollte. Der Schlieffenplan bedeutete auf Seiten Deutschlands eine radikale Vereinseitigung der bisher gültigen, flexibleren Planungen zu Gunsten des nunmehr zum 93 Zu den Texten von 1905-1912 siehe Ritter: Der Schlieffenplan, S. 139-200. 94 Vgl. Ziebura, Gilbert: Sozialökonomische Grundfragen des deutschen Imperialismus vor 1914. In: Sozialgeschichte heute. Festschrift lur Hans Rosenberg zum 70. Geburtstag, hrsg. von Hans- Ulrich Wehler. Göttingen 1974, S. 495-524, hier S. 497 und 505. 95 Kessel, Eberhard: Moltke. Stuttgart 1957, S. 711. 54