Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 44. (1996)
KALMÁR, János: Regierungsnormen Karl Habsburgs (Karl VI.) vor seiner Kaiserwahl im Jahr 1711
REGIERUNGSNORMEN KARL HABSBURGS VOR SEINER KAISERWAHL IM JAHR 1711 VON JÁNOS KALMÁR Historiker sind selten in der günstigen Lage, spezifische Regierungsnormen einzelner Herrscher mit Hilfe direkter Willensäußerungen wie etwa politischen Testamenten feststellen zu können. Bei derartigen Versuchen ist man meistens gezwungen, die Methoden der Regierung zu analysieren und daraus Schlüsse zu ziehen; die Schwäche der auf diesem Wege abgeleiteten Folgerungen liegt - auch wenn sich oft keine andere Möglichkeit anbietet - in ihrer Indirektheit. In der alltäglichen Ausübung von Herrschaft werden abstrakte oder vorgefertigte Regierungsnormen durch eine Menge von Kompromissen, bedingt etwa durch abweichende Vorstellungen der leitenden Politiker oder durch objektive Gegebenheiten der Realität, modifiziert. Für den Historiker ist es dann im allgemeinen äußerst schwierig zu beurteilen, wieweit das sichtbare Resultat der Herrschaftspraxis den ursprünglichen subjektiven Absichten entspricht bzw. individuelle Vorstellungen in der praktischen Umsetzung ihren Niederschlag finden. Im Falle des späteren Kaisers Karl VI. sind wir in dieser Hinsicht in einer relativ günstigen Lage. Infolge seines spanischen Königtums und der damit verbundenen Abwesenheit vom Wiener Hof bis zur Kaiserwahl verfügen wir über Quellenmaterial, das uns Einblick in seine persönlichen Regierungsnormen gewährt. Dazu zählen etwa die Briefe, die er 1711, nach dem unerwarteten Tod seines Bruders, des Kaisers Joseph I., an seine Mutter, die Regentin Eleonora Magdalena, oder jene, die er an seinen vertrauten Freund, den böhmischen Oberstkanzler Graf Johann Wenzel Wratislaw richtete'. Zu dieser Zeit, also ab April 1711, war eine der aktuellsten Fragen, die den Wiener Hof beschäftigten, die möglichst rasche Lösung der komplizierten Situation, die der Kuruzenaufstand unter Führung des Fürsten Franz II. Rákóczi in Ungarn verursacht hatte. Im Hinblick auf den noch andauernden Spanischen Erbfolgekrieg lag es im Interesse der Wiener Regierung, diesem ungarischen Problem ein dauerhaftes Ende zu bereiten. Als Karl - seit dem Tod seines Bruders zugleich (wenn auch noch ungekrönt) König von Ungarn - in dieser Angelegenheit seine Meinung äußerte, hatten die Verhandlungen mit den Aufständi- 1 1 Die letzteren werden hier zitiert nach der Edition von Arneth, Alfred: Eigenhändige Correspondenz des Königs Karl III. von Spanien (nachmals Kaiser Karl VI.) mit dem obersten Kanzler des Königreiches Böhmen, Grafen Johann Wenzel Wratislaw. In: Archiv fiir Kunde österreichischer Geschichts- Quellen 16(1856), S. 3-224. 138