Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 39. (1986)

AUER, Leopold: Historische Friedensforschung (Literaturbericht)

Rezensionen 455 ten Bedingungen kamen nicht zustande. K. stellt unter den von der Wiener Führung in ihren Entscheidungen berücksichtigten Faktoren die Politik Ruß­lands und das dadurch vorbestimmte österreichisch-russische Verhältnis zu Recht in den Mittelpunkt. Er läßt gleichzeitig eines der Hauptelemente der von Andrässy genannten Bedingungen, den Anspruch auf eine mögliche innere Legitimität, außer acht, wiewohl im Protokoll der Konferenz vom Januar festgehalten ist: eine Aktion sei nur möglich, wenn sie „ein Eingreifen unserer­seits nach Innen und Außen zu legitimiren geeignet“ ist. In der Dissertation wird auf die Analyse der Budapester Vereinbarungen und der Reichstädter Konvention verständlicherweise besonderer Akzent gelegt. Der Vf. qualifiziert die Reichstädter Konvention als „primär als Abwehr gegen eine Vereinigung der beiden türkischen Provinzen mit Serbien und Montenegro gedacht und als ein Vorbeugen gegen die Gefahr der Bildung eines großen slawischen Staates“. Die Expansion nach dem Muster von Reichstadt sei nach K’s Ansicht eine „defensive Maßnahme zum Schutz der Monarchie“ und als solche quasi gerechtfertigt. Bei den Vereinbarungen von Budapest erkennt der Vf. ohne weiteres an, daß dort „reine Machtpolitik betrieben wurde“, da nunmehr auch der Sandschak Növi Pazar zu den zu erreichenden Zielen zählte. Zwischen den Vereinbarungen von Reichstadt und Budapest gibt es in der Tat einen substantiellen Unterschied, der m. E. darin besteht, daß sich die Reich­städter Konvention zwischen Rußland und der Monarchie irgendwie noch in die zeitgenössische Auffassung von der „natürlichen Entwicklung“ der Region einreihen läßt; sie steht mithin nicht in diametralem Gegensatz zu der auch von Andrässy favorisierten Parole der Aufrechterhaltung der Türkei als Groß­macht und schloß auch eine direkte Intervention Europas auf dem Balkan aus. Die Vereinbarungen von Budapest dagegen tragen sichtlich die unleugbaren Merkmale der teilweisen Aufteilung der Türkei an sich; obendrein wäre die Monarchie unter den Initiatoren der Aufteilung gewesen. Abzustreiten, daß die Monarchie mit der Reichstädter Konvention ebenso wie mit den Vereinbarun­gen von Budapest eine Expansionspolitik verfolgte, ist keine ungefährliche Sache. Wer aufgrund welcher Kriterien hat schließlich darüber zu entscheiden, wie groß fremde Territorien sein können, die eine Großmacht aus defensiven Gründen erobern darf? Als die Monarchie einen kleinen oder größeren Teil Bosniens erobern wollte, verfolgte sie expansionistische Ziele. Der Vf. legt ausführlich dar, wie es im Zusammenhang mit dem Schicksal des Sandschak Növi Pazar zu den ersten bedeutenden Kontroversen zwischen Andrässy und Beck kam. Es darf vielleicht auch erwähnt werden, daß der Grund dafür nicht zuletzt in dem von Andrässy erhobenen, bereits oben erwähnten inneren Legitimationsanspruch gelegen sein dürfte. Beck war zuversichtlich, daß der angestrebte Gebietserwerb während des bevorstehenden russisch-türkischen Krieges gesichert werden könne. In diesem Interesse wäre die militärische Führung selbst vor einem direkten rußlandfeindlichen Militärkonflikt nicht zurückgeschreckt. Andrässy gab sich, wie gewohnt, nicht mit einem einzigen Lösungsversuch zufrieden. Er hoffte, daß die europäischen Großmächte auf der Konferenz von Konstantinopel die Hohe Pforte zu Reformen bewegen würden, wodurch die Aufteilungspläne hinausgeschoben oder gar ganz überflüssig werden könnten. Von demselben Ziel geleitet, versuchte er eine friedliche Regelung der Krise auf dem Verhandlungswege zu erreichen. Mit dem Ausbruch des russisch-türkischen Krieges begann eine qualitativ neue Phase:

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