Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 39. (1986)

AUER, Leopold: Historische Friedensforschung (Literaturbericht)

456 Literaturberichte Die Alternative, die nach Andrássys Auffassung die Besetzung Bosniens vermeidbar gemacht hätte, war nicht mehr gegeben. Da sich jedoch die internationalen Bedingungen lange Zeit als ungeeignet für eine Okkupation erwiesen, wurde die Besetzung zur großen Enttäuschung der Militärs erneut hinausgeschoben. Nach dem Sieg der Russen im Krieg gegen die Türken nahm für die Führungskraft der Monarchie die schwerste Periode ihren Anfang: Das zaristische Reich rückte von dem im Budapester Abkommen Festgelegten ab. Kein Zufall, daß in dieser Periode auch die Differenzen zwischen Andrássy und der militärischen Führung am stärksten zutage traten. Der Außenminister zog die Eröffnung eines Krieges ernsthaft in Erwägung. Allein dieser Gedanke, aber noch mehr die Tatsache, daß Andrássy vor allem nicht im Interesse der Expansion, der Sicherung Bosniens, in Aktion treten wollte, sondern vielmehr mit dem Ziel, Rußlands Einfluß in Südosteuropa zurückzudrängen, ließen bei der militärischen Führung Zweifel aufkommen. Einen Krieg mit letzterem Ziel lehnten indes die Militärs strikt ab. Im vorlie­genden Band untermauert K. Andrássys Rußlandfeindlichkeit mit weiteren Beweisen. Wenig überzeugend scheint dagegen die These des Vf’s, derzufolge Andrássy im März 1878, nachdem die Militärs den Monarchen zur Ablehnung der Pläne des Außenministers, einen Krieg gegen Rußland zu eröffnen, bewo­gen hatten, sich gezwungen sah, Becks um jene Zeit zu Papier gebrachte, zu weit gehende Expansions-Wunschträume zu akzeptieren; das heißt, er selbst wäre dafür eingetreten, daß die Monarchie die ganze westliche Hälfte des Balkans unter ihren ausschließlichen Einfluß bringe. Angesichts des Mangels an Beweismaterial muß man daran denken, daß K. zu dieser Schlußfolgerung gelangte, weil er es unterließ, den sehr komplizierten diplomatischen Kampf nach San Stefano gebührend tiefschürfend zu analysieren. Das im Frühjahr 1878 am Ballhausplatz formulierte Aktionsprogramm fand dagegen bei der militärischen Führung Zustimmung; das Wissen um diese Tatsache verstärkte Andrássys Positionen auf dem Berliner Kongreß. Die eigenartige, entscheidungsvorbe­reitende Rolle der Militärkonferenzen tritt bei Darstellung der auf höchster Ebene getroffenen Vorbereitungen zur Durchführung der Okkupation in der Zeit nach dem Kongreß erneut hervor. Überaus aufschlußreich ist die unter Hinzuziehung Andrássys von der Heeresleitung geführte Diskussion über das Schicksal des Sandschak Novi Pazar, über die Durchsetzung des Artikels XXV des Berliner Vertrages. Zu Recht sieht K. eine „Selbstüberschätzung der österreichisch-ungarischen Möglichkeiten“ darin, daß selbst die Heeresleitung die Ansicht vertrat, die Monarchie sei nicht einmal in der Lage, ihre Rechte im Sandschak wahrzunehmen, und damit bekräftigte er die auch in der einschlägigen ungarischen Literatur geäußerte Meinung (vgl. Heeresleitung und Balkan­pläne in Österreich-Ungarn in den Krisenjahren 1875—1878 [Annales Univ. Budapesti- nensis. Sectio Historica 21, 1981]). Das größte Verdienst der Dissertation liegt in der Zusammentragung des vielfältigen Quellenmaterials. Ernsthaftere Kritik ist eher im Zusammenhang mit dem theoretischen Teil der Arbeit angebracht, wenn der Vf. am Ende seines Bandes Verallgemeinerungen wagt. Die simple Gegenüberstellung der „politi­schen“ und der „militärischen Führung“ ist jedenfalls eine unvertretbare Vereinfachung, auch wenn diese der Absicht entspringt, ein Modell zu schaf­fen, demzufolge es nur zwei Möglichkeiten gibt: die dominierende Position entweder des einen oder des anderen. Nach der Natur der Dinge (der damaligen Kriegsverhältnisse) bedeutet dies zumeist, daß sich Andrássy den Wünschen der Heeresleitung unterordnete. Eng damit verbunden ist die Auslegung des Mitspracherechtes: K. betont zwar unentwegt, daß die Heeresleitung an der Beleuchtung außenpolitischer Fragen beteiligt war und auf Entscheidungen

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