Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 39. (1986)
AUER, Leopold: Möglichkeiten und Aufgaben einer Universalgeschichte
10 Leopold Auer der Ablaufcharakter des historischen Prozesses von Menschen beeinflußt werden kann24), hat man abwechselnd als lineares Fortschreiten, zyklische Wiederkehr oder Wechsel von Aufstieg und Niedergang, jedenfalls als Abfolge einzelner Entwicklungsstufen verstanden, die sich auseinander ergeben und erklären lassen. Die Interpretation der Weltgeschichte als zunehmende Entfaltung menschlichen Fortschritts ist im wesentlichen ein Produkt der Aufklärung25). Tatsächlich wird man gewisse Elemente eines Fortschreitens wie die Zunahme menschlichen Wissens, die größere Naturbeherrschung oder eine gewissen Regeln gehorchende Abfolge verschiedener Wirtschaftsformen26) vom Urzustand über die neolithische zur industriellen Revolution nicht leugnen können27), doch ist dieses Fortschreiten weder eine geradlinige, ununterbrochene Entwicklung28) noch notwendigerweise gleichbedeutend mit Verbesserung. Abgesehen davon, daß es Bereiche gibt, die grundsätzlich außerhalb des Fortschritts stehen, weil etwa kein Mensch über die Alternative hinausgelangen kann, sein Leben unter den gegebenen Umständen zu gewinnen oder zu verlieren29), kann Fortschritt, der häufig lediglich ein Freiwerden für die nächstgrößeren Probleme bedeutet, eben dadurch die Ambivalenz der weiteren Entwicklung zwischen Scheitern und Erfolg verstärken30) und damit bereits 24) Damit ist nicht nur die Frage nach Freiheit und Zwangsläufigkeit, nach Ereignis und Tendenz, sondern auch nach einem möglichen Wechsel in der Rolle des Menschen im Sinne einer „dépersonnalisation des événements“ (Raymond Aron) gemeint; vgl. Meier Fragen und Thesen 17 ff und 22. 25) So zum Beispiel Hans Peter Dreitzel Problemgeschichtliche Einleitung in Sozialer Wandel. Zivilisation und Fortschritt als Kategorien der soziologischen Theorie (Soziologische Texte 41, 21972) 24 ff. 26) Der Wandel der Produktionsformen, den die marxistische Geschichtstheorie zum Grundprinzip des historischen Prozesses erhoben hat, stellt zweifellos einen wichtigen Faktor dar; er reicht jedoch nicht aus, um Erscheinungen wie Staatlichkeit oder religiöse Bewegungen restlos zu erklären. Auch der Wandel des Weltbildes, religiöser Vorstellungen oder wissenschaftlicher Erkenntnisse kann in vielen Fällen nicht auf einen Wandel der Produktionsweise zurückgeführt werden. 27) Vgl. in diesem Sinn etwa Emst Bloch Thesen zum Begriff des Fortschritts in Sozialer Wandel 202 und Horneil Hart Die Beschleunigung der kulturellen Entwicklung ebenda 250 ff. Auch die Evolution in der Natur wurde immer wieder zur Unterstützung dieser Ansicht ins Treffen geführt; vgl. Meier Fragen und Thesen 13 Anm. 8 und Rüsen Geschichte als Prozeß 213. 28) Bloch Thesen spricht im Gegensatz zur Einlinigkeit vom „währenden und oft verschlungenen Kontrapunkt der historischen Stimmen“. Vgl. zum Problem auch Elisabeth Charlotte Welskopf Schauplatzwechsel und Pulsation des Fortschritts in Universalgeschichte (wie Anm. 5) 122 ff. 29) Jaspers Sinn der Geschichte 404. 30) Vielfach ist es bereits diese wachsende Ambivalenz zwischen hohem zivilisatorischem Niveau und tendenziell steigender Krisenanfälligkeit, die, vermutlich zu Unrecht, als Niedergang empfunden wird. Die im historischen Entwicklungsprozeß selbst angelegte Doppelseitigkeit, die am Ende des Fortschritts vielleicht wieder zu einem Anfang der Geschichte zurückführt, wurde in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts besonders von Franz Schnabel und Max Horkheimer betont; vgl. Heinrich Lutz Aufstieg und Krise der Neuzeit in Denken über Geschichte 49 und 59.