Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 39. (1986)
AUER, Leopold: Möglichkeiten und Aufgaben einer Universalgeschichte
Universalgeschichte 9 einerseits die bereits angeschnittene Diskussion um die Diffusionstheorie20) von Bedeutung, nämlich inwieweit mit einer Ausbreitung zivilisatorischer Leistungen von einem Ursprungsort und inwieweit mit gleichen oder ähnlichen, unabhängig voneinander an verschiedenen Orten auftretenden Entwicklungen gerechnet werden kann; andererseits sollte Universalgeschichte die Errungenschaften menschlichen Geistes auch unter dem Gesichtspunkt sehen, was sie zur Entwicklung der Menschheit im ganzen beigetragen haben, ohne freilich deswegen jene Leistungen zu vernachlässigen, die zwar vielleicht ohne nachhaltige Wirkung geblieben sind, aber im Sinne der „histoire axiologique“ Paul Veynes21) um ihrer selbst willen Beachtung verdienen. Mit der Forderung nach einer Betrachtung dessen, was zur Entwicklung der Menschheit im ganzen beigetragen hat, ist aber noch ein weiterer Gesichtspunkt verknüpft, der als Aufgabe einer Universalgeschichte angesprochen werden muß. Wie die Auseinandersetzung des Menschen mit der Umwelt den Motor seiner zivilisatorischen Leistungen darstellt, so werden dadurch gleichzeitig auch Entwicklungen in Gang gesetzt, die eine Eigengesetzlichkeit entfalten und als veränderte Umweltbedingungen wieder neue Reaktionen hervorru- fen. Der dadurch eingeleitete komplexe Entwicklungsprozeß, der im übrigen ebenso auf Reproduktion wie auf Veränderung gerichtet sein kann, erscheint im ganzen nicht von Zufällen, sondern von einem gewissen Mechanismus und einer Regelhaftigkeit bestimmt, die sich aus der wechselseitigen Verflechtung des Planens und Handelns der einzelnen Menschen ergeben und ihrerseits wieder das Medium bilden, in dem sich Individualität erst entfalten kann22). Vom individuellen zielgerichteten menschlichen Handeln ausgehend führt dieser Prozeß vielfach zu Ergebnissen, die von diesem Handeln gar nicht beabsichtigt waren23); diese Eigengesetzlichkeit, die die Frage auf wirft, inwieweit 20) Oben S. 6 und Franz Hampl Universalgeschichte am Beispiel der Diffusionstheorie in Geschichte als kritische Wissenschaft (wie Anm. 7) 182 ff, dem zuzustimmen ist, solange er gegen die Ablehnung der Möglichkeit von parallelen Entwicklungen zu Felde zieht, der darüber aber doch trotz seiner Einschränkungen a. a. O. 194 zu sehr die gleichermaßen vorhandene Möglichkeit einer Ausbreitung außer Acht läßt. 21) Vgl. dazu Henri-Irénée Marrou L’epistémologie de l'histoire en France aujourd’ hui in Denken über Geschichte (Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit 1, 1974) 110 mit Anm. 43. Ähnliche Überlegungen bei Hampl Universalhistorische Betrachtungsweise 154 ff. 22) Elias Prozeß der Zivilisation 2 314 f und 476. Zum Problem historischer Prozesse im allgemeinen vgl. den Sammelband Historische Prozesse (wie oben Anm. 10), zu Veränderung oder Reproduktion als Ergebnis solcher Prozesse Christian Meier Fragen und Thesen zu einer Theorie historischer Prozesse in Historische Prozesse 13 und 44. 23) Das war schon Kant bewußt, der in den Ideen zu einer allgemeinen Geschichte der Menschheit einmal bemerkt: „Einzelne Menschen und selbst ganze Völker denken wenig daran, daß, indem sie, ein jeder nach seinem Sinne und einer oft wider den anderen ihre eigene Absicht verfolgen, sie unbemerkt an der Naturabsicht, die ihnen selbst unbekannt ist, als an einem Leitfaden fortgehen und an derselben Beförderung arbeiten, an welcher, selbst wenn sie ihnen bekannt würde, ihnen doch wenig gelegen sein würde“; zitiert nach Friedrich Engel-Janosi Bemerkungen über hypothetische Geschichtsschreibung in MÖStA 25 (1972) 537 (Nachdruck in Die Wahrheit der Geschichte 40). Zum Problem vgl. zuletzt Meier Fragen und Thesen 21 ff, 28 ff und 42 ff.