Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 38. (1985)

LAUBACH, Ernst: „Nationalversammlung“ im 16. Jahrhundert. Zu Inhalt und Funktion eines politischen Begriffes

„NATIONALVERSAMMLUNG“ IM 16. JAHRHUNDERT ZU INHALT UND FUNKTION EINES POLITISCHEN BEGRIFFES Von Ernst Laubach In den religionspolitischen Auseinandersetzungen im Reich in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts begegnet immer wieder der Vorschlag bzw. die Forderung nach einer „nationalversamlung“ („nationis congregatio/ conventus“, „assemblée nationale“), und zwar als Alternative zu einem Konzil. Zahlreiche Handbücher und Darstellungen zur deutschen Ge­schichte im Zeitalter der Reformation haben den Terminus aus den Quel­len übernommen, ohne sich um nähere inhaltliche Erläuterungen zu be­mühen, obgleich „Nationalversammlung“ im modernen Sprachgebrauch eine präzise Bedeutung hat, die für die Verhältnisse des 16. Jahrhunderts nicht paßt. Nach den Auskünften unserer historischen und politikwissen­schaftlichen Lexika gibt es Nationalversammlungen erst seit der Franzö­sischen Revolution: Demnach ist eine Nationalversammlung „in der Regel ein in revolutionären Zeiten zusammentretendes verfassungsgebendes Parlament. Die erste Nationalversammlung wurde in Frankreich 1789 ein­berufen“ '). Hinweise auf das frühere Vorkommen des Terminus fehlen. Da die zitierte Erläuterung des Begriffs zum rechten Verständnis jener Forderung im 16. Jahrhundert nichts beitragen kann, vermag die einfache Übernahme des Wortes aus den Quellen das Postulat nach angemessener interpretierender Ausdrucksweise nicht zu befriedigen: Eine begriffsge­schichtliche Betrachtung erscheint angezeigt* 2). Dabei stößt man auf die Schwierigkeit, daß es trotz des relativ häufigen Gebrauchs des Wortes keine präzisen inhaltlichen Erläuterungen in den zeitgenössischen Quellen gibt. Da ein Gremium, an dem die Bezeichnung haften geblieben wäre oder das sie für sich in Anspruch genommen hätte, damals nie zusammengetreten ist, kann der Bedeutungsgehalt nicht an 1) Sachwörterbuch zur deutschen Geschichte, bearb. v. Hellmuth R ö s s 1 e r und Günther Franz (München 1958) 783. Ähnlich die Auskunft der Brock­haus-Enzyklopädie; dort noch der Hinweis, daß „Nationalversammlung“ in einigen Staaten zum Namen des Parlaments geworden ist. 2) Zur Notwendigkeit und Erkenntnismöglichkeit begriffsgeschichtlicher Be­trachtung Reinhart Koselleck Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte in Peter Christian L u d z (Hg.) Soziologie und Sozialgeschichte (Opladen o. J.) 116—131. Mitteilungen, Band 38 1

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