Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 37. (1984)

MARZAHL, Peter – RABE, Horst – STRATENWERTH, Heide – THOMAS, Christiane: Stückverzeichnis zum Bestand Belgien PA des Haus-, Hof- und Staatsarchivs Wien

Rezensionen 511 einzugreifen, die „Tiroler Außenpolitik“, wie es Sch. nennt. Dennoch gelingt dem Autor nicht der wirkliche Zugriff, und der entscheidende Durchbruch zu einer neuen Synthese bleibt aus. Es werden wohl alle Kontroversen der Litera­tur abgehandelt (Frage der strategischen Bedeutung der Brennergrenze; Infor­mationsstand Wilsons; Interpretation des Begriffes „Selbstbestimmungs­recht“; Ausmaß des Einflusses Tolomeis; wirkliche oder vermeintliche Bereit­schaft Englands und Frankreichs, den Londoner Vertrag nicht nur hinsichtlich Dalmatiens, sondern auch der Nordgrenze Italiens fallenzulassen usw.); Sch. versucht auch, aus der Vielzahl der Äußerungen der Politiker und Diplomaten jene herauszufinden, die am meisten Gewicht haben und uns zeigen, „wie es wirklich gewesen ist“; er ist bemüht, die Motive der handelnden Personen zu eruieren und ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen (mit einer Ausnahme, auf die ich noch eingehe): trotzdem bleibt alles in der Schwebe, zwiespältig, ja widersprüchlich. Der Leser folgt mühsam den Windungen und Wendungen der Akten und der Chronologie und erreicht erschöpft einen zusammenfassenden Absatz, doch die so geweckte Hoffnung, festen Boden zu betreten, wird bald durch eine Relativierung, ja Verkehrung ins Gegenteil zerstört. Ein Beispiel: Der amerikanische Präsident Wilson spielte zweifellos eine bedeutende Rolle bei der in Rede stehenden Grenzfestlegung. Sch. formuliert dies mehrfach und eindeutig: „Auf das Geschick und das Gewicht Wilsons auf der Konferenz würde es ankommen, inwieweit der Londoner Vertrag realisiert würde“ (S. 54). „Der entscheiden­de Faktor war aber der amerikanische Präsident“ (S. 56). Er war „der Mann, in dessen Macht es lag, über das Schicksal Südtirols zu entscheiden“ (S. 71). Dennoch wird dem Leser auf S. 92 „sehr deutlich vor Augen geführt, daß bei diesen Schwierigkeiten zwischen den Alliierten einfach kein Raum mehr für eine neuerliche Aufrollung der Südtirolfrage blieb, selbst wenn Wilson die Absicht dazu gehabt hätte. Es war eben eine Frage der Prioritäten“. Seine Entscheidung, Italien die Brennergrenze zuzugestehen, war eine „Fehlentscheidung“ (S. 123), doch auf der nächsten Seite liest man: „Wilson konnte wohl den Londoner Vertrag ablehnen, aber es war unmöglich, Italien nach einem verlustreichen, aufopferungsvollen Krieg an der Seite der Alliierten nichts zu geben, während England sich die deutschen Kolonien einverleibte und Frankreich seine Stel­lung am Rhein ausbaute“ (S.124). Vollends liest man auf S. 419 von der „Vormachtstel­lung Frankreichs am Konferenztisch“. Es ist keineswegs eine Folge mangelnder Quellenkenntnis oder Beherrschung des Details, daß dieser Eindruck eines schwankenden Grundes entsteht, son­dern Ergebnis der Methode und der Fragestellung. Die Methode: Sch. schreibt Diplomatiegeschichte (dies trifft im vollen Wortsinn auch dann zu, wenn er die Tiroler Bemühungen zur „Rettung Südtirols“ ausführt). Obwohl ökonomische, psychologische und parteipolitische Gesichtspunkte nicht ganz außer acht gelassen werden, geht es dem Autor darum, möglichst genau zu rekonstruieren, warum und in welchem zeitlichen Ablauf sich die italienische Diplomatie durchsetzen konnte, und nicht die österreichische oder die Tiroler Diplomatie. Auf dieser Ebene bleiben aber gewisse Probleme unlösbar. Die Fragestellung: Letzten Endes sucht Sch. trotz aller anerkennenswerten Bemühungen um Sachlichkeit Schuldige. Dies ist eine überholte, weil falsch gestellte Frage. Die Diplomatiegeschichte bleibt den Beweis schuldig, der Prozeß bleibt ein Indizienprozeß. Nur die Akzente werden verschoben: Nicht mehr die bösen Italiener und der schlecht informierte amerikanische Präsident, sondern ein wohl unterrichteter Wilson, ein schlecht beratener Otto Bauer und zum Teil die uneinigen Tiroler selbst sind schuldig. Es wäre ein großer Fortschritt gewesen,

Next

/
Thumbnails
Contents