Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 37. (1984)
SUTTER, Berthold: Machtteilung als Bürgschaft des Friedens. Eine Denkschrift des Botschafters Heinrich von Calice 1896 zur Abgrenzung der Interessensphären zwischen Rußland und Österreich-Ungarn am Balkan
316 Berthold Sutter III Das Ziel, den europäischen Hauptkrisenherd zu beruhigen, die voraussehbare Wahrscheinlichkeit einer „ernsten Komplikation“ auszuschalten, durch Abgrenzung der Machtsphären klare Verhältnisse zu schaffen, Rußland an einem „elementaren“ Vordringen und am Aufbau einer einseitigen machtpolitischen Dominanz auch im Südosten Europas zu hindern, durch Beseitigung bestehender Reibungsflächen den Frieden insgesamt zu sichern und damit die Machtstellung Österreich-Ungarns zu erhalten, schien wichtiger als die — zudem widersprüchlichen — nationalen Forderungen und rivalisierenden Wünsche der in ihren Vorstellungen noch gärenden Balkanvölker. Ständiges Mißtrauen, von Rußland mit großem Geschick als Instrument seiner Machtpolitik - bei gleichzeitiger eigener Aggressivität und nachhaltiger Förderung der am Balkan gegen Österreich-Ungarn gerichteten subversiven Agitationen - gehandhabt und eingesetzt, mußte, auf Dauer gesehen, die Beziehungen zwischen dem Zarenreich und der k. u. k. Monarchie bis zu einem Grade vergiften, bei dem eine konfliktfreie Lösung der Probleme nicht mehr möglich war. Dazu kam die mußte, weshalb es mit allen Mitteln versuchte, den Wert, den ein solches zu diesem Zeitpunkt für England besessen hätte, zu diskreditieren. Als ungeachtet der zugespielten „Information“ der englische Kolonialminister Joseph Chamberlain - eine der starken Persönlichkeiten im Kabinett Salisbury - in seiner berühmten, am 13. Mai 1898 in Birmingham gehaltenen Rede auf die durch das Vorgehen Rußlands bestehende Kriegsgefahr und auf die für Großbritannien sich ergebende Notwendigkeit verwies, mit jenen Mächten ein Bündnis zu schließen, deren Interessen denen Englands gleichartig seien, und dabei den „kaum verhehlten Wunsch“ — wie es der Observer nannte - aussprach, ein Bündnis auch mit Deutschland zu schließen, ein Wunsch, dem die öffentliche Meinung Englands durchaus nicht einhellig zustimmte, übergab der Dragoman der russischen Botschaft in Konstantinopel dem dortigen Korrespondenten der Frankfurter Zeitung denselben Text, den der britische Botschafter in Berlin erhalten hatte und der nunmehr am 16. Mai 1898 in der genannten Zeitung — und das hatte man ja beabsichtigt - erschien: Ludwig Bittner Österreich-Ungarn und die Deutsch-englischen Bündnisverhandlungen im Frühjahr 1898 in Gesamtdeutsche Vergangenheit. Festgabe für Heinrich R. v. Srbik (München 1938) 372-380, hier 373—376. - Zur allgemeinen Problematik James L. Garvin The Life of Joseph Chamberlain 3: Empire and World Policy (1895-1900) (London 1934) 278-280; Georg Monger The End of Isolation; British Foreign Policy, 1900-1907 (London 1963); deutsche Übers, unter dem Titel: Ursachen und Entstehung der englisch-französisch-russischen Entente, 1900-1907 (Seeheim an der Bergstr. 1969); Otto Becker Die Wende der deutsch-englischen Beziehungen in Festschrift für Gerhard Ritter (Tübingen 1950) 353-400, hier 354 f; Friedrich Meinecke Geschichte des deutschenglischen Bündnisproblems 1890-1901. Unveränd. reprograf. Nachdruck der Ausgabe 1927. Mit einem Vorwort von Hans Herzfeld (München-Wien 1972) XX-XXII, 85—114; Wilhelm Schüßler Die deutsch-englischen Bündnisverhandlungen 1898-1901 in dsbe Deutschland zwischen Rußland und England. Studien zur Außenpolitik des Bismarck- schen Reiches (Leipzig 1940) 100-157. - Am 17. Mai 1898, in Budapest im auswärtigen Ausschuß der ungarischen Delegation vom Berichterstatter Dr. Max (Miksa) Falk danach befragt, erklärte Goluchowski „bündig und mit kurzen Worten“, daß es sich bei der „Mitteilung“ der Frankfurter Zeitung um „eine plumpe Erfindung“ handle. Kurzfristig vermochte sie trotzdem in der Presse einiges Aufsehen, in England peinliche Überraschung auszulösen. Die Denkschrift des Freiherrn von Calice war dem „Erfinder“ jedenfalls nicht bekannt, wie sich aus dem Inhalt der „Mitteilung“ ergibt. Siehe Anhang 2 S. 324.