Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 37. (1984)
SUTTER, Berthold: Machtteilung als Bürgschaft des Friedens. Eine Denkschrift des Botschafters Heinrich von Calice 1896 zur Abgrenzung der Interessensphären zwischen Rußland und Österreich-Ungarn am Balkan
Machtteilung als Bürgschaft des Friedens 317 durch nichts gerechtfertigte, doch ständig wiederholte Behauptung, in den eigenen Machtinteressen gefährdet zu sein, was nicht ohne Eindruck blieb, gleichwohl Rußland jeweils selbst bestimmte, was seine Positionen, seine Sicherheit, seine angeblich historisch erworbenen Rechte und seine selbst gewählten, hoch gesteckten Ziele tangiere. Österreich-Ungarn mußte, da es den europäischen Frieden erhalten wollte, versuchen, mit Rußland zu einer beide Teile bindenden Konvention zu kommen. Das vom Botschafter Heinrich von Calice verfochtene Prinzip, durch gegenseitiges Geben und Nehmen die schwebenden, zumeist aus der Vergangenheit stammenden machtpolitischen Reibungsflächen zu bereinigen und damit gefährlichen Konfliktstoff aus der Welt zu schaffen, wurde nach der Jahrhundertwende, das sollte bei einer kritischen Wertung nicht vergessen werden, von England mit großem Erfolg gehandhabt. Auf Grund dieses Prinzips kam es — wenn auch erst nach zähem Ringen - am 8. April 1904 zur Entente mit Frankreich, in dessen Öffentlichkeit sie anfänglich auf starken Widerstand stieß, und am 31. August 1907 zum Abkommen mit Rußland, dessen Wunsch, bei dieser günstigen Gelegenheit bindende Zusagen hinsichtlich Konstantinopels und der Meerengen zu erhalten, jedoch unerfüllt blieb, da Grey sich nur dazu verstand, unverbindlich auf die Zukunft zu vertrösten40). Sowohl die 1907 getroffenen Vereinbarungen, die zu einer tatsächlichen Aufteilung Persiens in drei Zonen führten, als auch die nie Wirklichkeit gewordenen Pläne des k. u. k. Botschafters Calice und des k. u. k. Generalstabschefs Beck haben sich über das den großen wie den kleinen Völkern und Staaten zustehende Recht auf politische Eigenständigkeit, Selbstentfaltung und Unabhängigkeit hinweggesetzt. Es ging hier wie dort um einvemehmliche Lösungen unter Berücksichtigung der aus der Großmachtstellung sich ergebenden vitalen Interessen, die zwecks Sicherung und Bewahrung eines dauerhaften Friedens aufeinander abgestimmt werden sollten, da jedes einseitige Zurückstek- ken sofort ein Übergewicht der anderen Seite und damit erst recht eine Bedrohung des Friedens bedeutet hätte. Jeder Versuch von Großmächten, Frieden ohne Rücksicht auf nationale Würde und angestammten Rechte durch Aufteilung geopolitisch relevanter Räume in Zonen und Interessensphären zu stiften und zu sichern, muß allerdings zu neuen Komplikationen führen, denn dauerhaften Frieden ohne Freiheit und Selbständigkeit der jeweils betroffenen Völker und Staaten kann es nicht geben. „Der Geist der Bedenkenlosigkeit“ mit dem — in den Denkschriften wie in der Realität - mit Menschen, Nationen und Staaten umgegangen, Grenzen verschoben und über bestehende Staaten verfügt wurde, ist allerdings nicht nur ein spezifisches Charakteristikum der als „Zeitalter des Imperialismus“ in die Geschichte eingegangenen Epoche. IV Als Aloys Freiherr Lexa von Aehrenthal in Nachfolge des Prinzen Liechtenstein mit Wirkung vom 26. Jänner 1899 den Botschafterposten in St. Peters40) Vgl. Anm. 19.