Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 37. (1984)
SUTTER, Berthold: Machtteilung als Bürgschaft des Friedens. Eine Denkschrift des Botschafters Heinrich von Calice 1896 zur Abgrenzung der Interessensphären zwischen Rußland und Österreich-Ungarn am Balkan
Machtteilung als Bürgschaft des Friedens 315 Hände binden zu lassen“37). Aber hätte Österreich-Ungarn, soferne der Frieden gesichert bleiben sollte, eine andere Möglichkeit überhaupt besessen? Indem Goluchowski konsequent auf dem Standpunkt verharrte, daß es sich bei Konstantinopel und den Dardanellen um eine durch den Pariser Frieden internationalisierte Frage handle, an der im Interesse der k. u. k. Monarchie nicht gerüttelt und die nicht einseitig zugunsten Rußlands entschieden werden dürfe, verbaute er sich die Handlungsfreiheit in dem Österreich-Ungarn tangierenden Teil der Balkanhalbinsel bei gleichzeitigem, den Frieden sicherndem Einvernehmen mit Rußland. Die stets mißtrauische russische Politik fühlte sich 1897 abermals übervorteilt. Noch wenige Tage vor der St. Petersburger Entre- vue hatte Nikolaus II. dem Grafen Kapnist entgegengehalten, daß Österreich- Ungarn nach Saloniki „graviere“38), was dem Zaren gar nicht so leicht auszureden war. Für Rußland bestand das positive Resultat der Entrevue im „Schwinden des Mißtrauens“, in der Gewißwerdung, daß die Interessen der beiden Monarchien „im Augenblick“ nicht kollidierten, und im „Bewußtsein“, daß keine Veränderung auf der Balkanhalbinsel ohne Zustimmung Österreich- Ungams und Rußlands und ohne einheitliche Leitung der beiden am meisten am Balkan interessierten Mächte eintreten dürfe. Damit war dem russischen Sicherheitsbedürfnis - auch gegenüber Bulgarien und dessen Ansprüchen - entsprochen, waren - wie sich Graf Kapnist ausdrückte - „Neunzehntel“ der russischen Wünsche abgedeckt. Um das entscheidende eine Zehntel sah sich Rußland jedoch abermals geprellt. Denn wenn - wie der russische Botschafter dem Prinzen Liechtenstein vorrechnete — „in dem geheimen, im Jahre 1887 abgelaufenen Vertrage der drei Kaisermächte auch Rußland der k. u. k. Monarchie das Recht garantiert habe, in dem der Regierung Seiner k. u. k. Apostolischen Majestät paßend erscheinenden Augenblicke von der Okkupation zur Annexion Bosniens und der Herzegowina zu schreiten, so habe dieser I. Paragraph des geheimen Protokolls seine Ergänzung in der Annahme einer von Rußland gestellten Forderung gefunden“, die nun aber zu einer europäischen Frage gemacht werde. „Ferne sei der Russischen Regierung, der kommenden Annexion der okkupierten Länder, dem eventuellen Inslebentreten eines autonomen Albaniens ein Veto entgegenzusetzen“. Sie nehme die „berechtigten Postulate“ der österreichisch-ungarischen Regierung zur Kenntnis und werde ihnen Rechnung tragen. Aber die „unbedingte Annahme“ der die Ergebnisse der St. Petersburger Konferenz zusammenfassenden Depesche Goluchowskis würde „die Verpflichtung einer Garantie seitens Rußlands in sich schließen“. Das jedoch „eile der Zeit voraus“39). 37) Fritz Fellner Der Dreibund. Europäische Diplomatie vor dem Ersten Weltkrieg (Österreich Archiv, München 1960) 46. 38) Nach dem geheimen Bericht n. 26 des Prinzen Liechtenstein: HHStA PA I 474. 39) Ebenda. - Während der deutsch-englischen Bündnisgespräche im Frühjahr 1898 wurde dem britischen Botschafter in Berlin der Inhalt eines angeblich anläßlich der St. Petersburger Kaiserentrevue 1897 zwischen Rußland und Österreich-Ungarn geschlossenen Vertrages zugespielt. Hinter dieser gezielten „Indiskretion“ stand höchstwahrscheinlich Rußland, das ein deutsch-englisches Bündnis zu verhindern trachten