Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 37. (1984)

SUTTER, Berthold: Machtteilung als Bürgschaft des Friedens. Eine Denkschrift des Botschafters Heinrich von Calice 1896 zur Abgrenzung der Interessensphären zwischen Rußland und Österreich-Ungarn am Balkan

Machtteilung als Bürgschaft des Friedens 313 Das nicht sofortige Zustandekommen schriftlicher, genau fixierter und bin­dender Abmachungen hat sich für Österreich-Ungarn rasch als nachteilig, für Rußland und seine Politik als vorteilhaft erwiesen. Zurückgekehrt nach Wien hat Goluchowski das noch zu erreichen versucht, was in St. Petersburg nicht möglich gewesen war. Es verzeichnet die Situation, wenn behauptet wird, Goluchowski habe es „versäumt“, sich in Petersburg die Resultate „schriftlich fixieren“ zu lassen, wieder daheim sich „jedoch eines Besseren besonnen“ und „nachträglich“ versucht, „einen Schriftwechsel zustande zu bringen“34). Golu­chowski hatte aufgrund der gegebenen Situation bei der Konferenz in St. Pe­tersburg gar nicht die Möglichkeit, eine schriftliche Fixierung zu begehren. Er mußte, ob er wollte oder nicht, sich mit dem Versprechen begnügen, das sich die beiden Monarchen persönlich gaben. Er hatte, indem er bereits in Wien die Konferenz in Gesprächen mit dem russischen Botschafter Graf Kapnist inten­siv vorbereitet hatte, sein Bestmögliches getan. Die Schuld lag beim Grafen Murawiew, der zum Exposé Gohichowskis nicht aus Überzeugung, sondern aus Schwäche, Ängstlichkeit und Sorge geschwiegen hatte, mit seiner Meinung den Zaren allenfalls zu verstimmen. Das bei der Konferenz nach seiner Auffassung erzielte Ergebnis faßte Goluchowski in einer an den Prinzen Liechtenstein gerichteten Depesche zusammen, die dieser auftragsgemäß dem Grafen Mura­wiew zu verlesen und in Kopie zu übergeben hatte, was am 11. Mai (29. April) 1897 erfolgte. Dabei meldete Murawiew sofort Bedenken an, die in seiner Note vom 17. (5.) Mai 1897 dann auch schriftlich festgehalten wurden35). Auch wenn tes Privatschreiben vom 11. Juni (30. Mai) 1898, in welchem er sich dafür bedankte, daß der Kaiser seine dringliche Bitte um Enthebung genehmigt hatte. Dem Dank fügte er sehr persönliche Worte hinzu: „Ich kann Dir nicht sagen, wie Dein gütiges Schreiben mich gefreut hat. Es ist unendlich schwer, hier nicht in stumpfen Fatalismus zu versin­ken. Wenn man sieht wie trotz der edlen und menschenfreundlichen Gesinnung eines gebildeten und aufgeklärten Monarchen diese antipathische, wenn ich so sagen darf, widernatürliche barbarisch-byzantinische Weltmacht unaufhaltsam Alles, was uns lieb und teuer ist, zu verschlingen droht, wie gegen diese elementare Gewalt kein Widerstand auf die Dauer möglich ist, wie Rußland nur durch innere Krankheiten einmal unschäd­lich werden kann, Krankheiten die nach menschlicher Voraussicht erst in Generationen acut werden können, - dann ist man versucht, die Hände in den Schoß zu legen und nur, einem Naturforscher gleich, die herannahende Katastrophe zu constatieren ohne gegen sie anzukämpfen. Und statt gemeinsamer Abwehr und Vertheidigung der höchsten Güter der christlich-lateinischen Civilisation feilschen die Staatsmänner Europas herum, klei­ne Vorteile sich zu erringen. Mag auch Hanotaux, wie es selbst sein officiöses Organ, der ,Temps1 beweist, über Muravieff enttäuscht sein, mag Frankreich fühlen, daß es wegen der leeren Jagd nach Eisass Lothringen und der Revanche seine politische Unabhängig­keit und seine Stellung im christlichen Oriente verloren hat, eine Umkehr ist nicht zu sehen. Und hat nicht Kaiser Wilhelm durch die Besitznahme Kiao Tschau’s auch im äußersten Osten eigentlich russische Politik gemacht?“ HHStA Botschaftsarchiv St. Pe­tersburg Ser. II, 3 (streng geheime Akten 1897-1901). 34) Wilhelm Mauritz Carlgren Iswolsky und Aehrenthal vor der bosnischen Anne­xionskrise. Russische und österreichisch-ungarische Balkanpolitik 1906-1908 (Uppsala 1955) 12. 3ä) HHStA PA I 474; BA St. Petersburg II, 3 n. 741; Weisung und Note gedruckt bei Alfred Franzis Pribram Die politischen Geheimverträge Österreich-Ungarns

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