Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 37. (1984)

SUTTER, Berthold: Machtteilung als Bürgschaft des Friedens. Eine Denkschrift des Botschafters Heinrich von Calice 1896 zur Abgrenzung der Interessensphären zwischen Rußland und Österreich-Ungarn am Balkan

308 Berthold Sutter pien der Orientpolitik Übereinstimmung“ existiere. „Angesichts der sichtli­chen Stärkung des Dreibundes und der Wiederannäherung Englands an den­selben müßte auch in den Augen Rußlands eine friedliche Auseinandersetzung, welche die Kriegsgefahr von dieser Seite vollends zu beseitigen geeignet wäre, einen erhöhten Wert besitzen“. Dazu komme, „daß die neuesten Entwicklun­gen der Weltpolitik das Interesse Rußlands teilen und auf andere Gebiete lenken“. Des weiteren seien „gewisse nicht zu unterschätzende, moralische Elemente in Betracht“ zu ziehen, und zwar „in erster Linie die eminente persönliche Verehrung“, welche Kaiser Franz Joseph auch in Rußland genieße, „die freundschaftlichen Beziehungen der beiden Kaiserhöfe, zu deren weiterer Pflege die kommende Kaiserkrönung in Moskau und der während des Sommers zu gewärtigende Besuch des Zaren in Wien günstige Gelegenheit“ böten; „die natürliche Solidarität“ der beiden Kaiserreiche und „die Erinnerung an die traditionelle Freundschaft“, welche die österreichisch-ungarische Monarchie mit Rußland — dem einzigen Reiche, mit welchem sie nie im Kriege war — bis in die ersten Regierungsjahre Kaiser Franz Josephs verbunden habe. Zudem ging Calice von der Annahme aus, „daß die von Berlin aus wiederholt und in neuester Zeit wieder in Anregung gebrachte Idee einer Teilung der Einfluß­sphären einer gewissen Fühlung mit Rußland nicht ganz entbehren dürfte“25). Für die Verhandlung selbst hielt er „eine schrittweise Methode für die empfeh­lenswerteste“, nämlich eine vorsichtige Sondierung, die Einführung der Grundprinzipien und die detaillierte Verhandlung. Erstere hätte die Etablie­rung der gegenseitigen Geneigtheit zur Wiederherstellung eines aufrichtigen und dauernden Freundschaftsverhältnisses auf Grund einer loyalen Verständi­gung zum Zwecke, und zwar mit dem Grundgedanken der tunlichsten Erhal­tung des vertragsmäßigen Status quo im Orient und der Vorbereitung für den Fall des Zusammenbruchs. Diese Sondierung könne eventuell auf indirektem Wege, nämlich über Berlin, erfolgen. Der Zarenbesuch in Wien wäre „vielleicht eine geeignete Gelegenheit, um sodann eine prinzipielle Verständigung zu versuchen“. Wenn dies gelinge, „wäre erst der Moment gekommen, in eine förmliche Verhandlung einzutreten. In allen Stadien aber wäre die strengste Wahrung des Geheimnisses nach außen hin erforderlich“. II Über den Eindruck, den das Mémoire des Freiherm von Calice bei Graf Goluchowski hinterließ, kann nichts ausgesagt werden. Fest steht, daß dieser zielbewußt auf eine Verbesserung der Beziehungen zu Rußland hingearbeitet, dabei jedoch die Frage des Besitzstandes von Konstantinopel und der Meeren­gen in allen seinen Bemühungen, Instruktionen und Besprechungen von vom­25) Bereits bei Bismarck findet sich die Vorstellung, Österreich-Ungarn und Rußland sollten als rivalisierende Mächte ihre Interessensphären auf der Balkanhalbinsel scharf abgrenzen, sich aber verpflichten, auf die Ausdehnung des eigenen Gebietes zu ver­zichten.

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