Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 37. (1984)

SUTTER, Berthold: Machtteilung als Bürgschaft des Friedens. Eine Denkschrift des Botschafters Heinrich von Calice 1896 zur Abgrenzung der Interessensphären zwischen Rußland und Österreich-Ungarn am Balkan

Machtteilung als Bürgschaft des Friedens 309 herein ausgeklammert hat26). Nach dem Antrittsbesuch des Zaren Nikolaus II. in Wien vom 27. bis zum 29. August 1896 hat Rußland von sich aus mehrfach Verständnisbereitschaft signalisiert. Begünstigt wurde eine solche durch den Umstand, daß im Gegensatz zu den chauvinistischen Ideen der Panslawisten Rußlands neuer Außenminister Graf Murawiew, vom Finanzminister von Witte darin unterstützt, in der sogenannten „Orientfrage“ temporisieren, von Fall zu Fall die auftauchenden Probleme lösen, den Status quo und so auch das Osmanische Reich, dieses jedoch als „kranken Mann am Bosporus“, erhalten wollte. Genauso wie Goluchowski die innere Schwäche Österreich-Ungams, kannte Murawiew die innere Schwäche und die Grenzen der Belastbarkeit Rußlands. Während der russische Botschafter in Konstantinopel, Dimitrij Nelidow, den baldigen Zusammenbruch der Türkei für unabwendbar hielt und diesen betreiben wollte, damit Rußland einen Anlaß zur bewaffneten Interven­tion und zur Besetzung Konstantinopels, der Dardanellen und der Südküste des Schwarzen Meeres habe, fürchtete Graf Murawiew, bei einem solchen Vorgang wegen der Rückwirkung auf die Donaumündungen „in einen soforti­gen Konflikt“ mit Österreich-Ungarn sowie mit Rumänien zu geraten. Anläß­lich seines Antrittsbesuches in Berlin beteuerte Graf Murawiew am 31. Jänner 1897 dem k. u. k. Botschafter Ladislaus von Szögyény-Marich, seiner Meinung nach wäre es am besten und weisesten, Österreich-Ungarn und Rußland ver­ständigten sich - ohne Rücksicht auf Berlin und womöglich England zum Trotz — direkt in allen sie interessierenden Fragen27). Da auch Graf Kapnist in derselben Weise gegenüber Goluchowski argumentierte, lag es an ihm, die sich bietende Gelegenheit zu nützen. Zudem zwang die Kreta-Krise von 1897 Rußland und Österreich-Ungarn zu einem akkordierten Vorgehen gegenüber den Balkanstaaten, um den Frieden in Europa insgesamt zu erhalten. Die günstigste Gelegenheit, zu einer Harmonisierung der Balkanpolitik der beiden Kaiserreiche zu gelangen, schien der Gegenbesuch zu bieten, den Kaiser Franz Joseph in der Zeit vom 27. bis 29. April 1897 in St. Petersburg abzustat­26) Zur Politik Österreich-Ungarns gegenüber der Türkei vgl. Francis Roy Bridge Austria-Hungary and the Ottoman empire in the Twentieth century in MÖStA 34 (1981) 234-271; Rubina Möhring Die Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn und dem Osmanischen Reich 1908-1912 (ungedr. phil. Diss. Wien 1978). - Die von Goluchowski konsequent verfochtene Orientpolitik hat verhindert, daß Rußland sich Konstantinopels und der Dardanellen bemächtigen konnte. Dagegen wurden schon während des Ersten Weltkrieges diverse Stimmen laut, Österreich-Ungarn hätte Rußlands Wünsche hinsicht­lich der östlichen Balkanhalbinsel unterstützen müssen. Vgl. Alexander Redlich Der Gegensatz zwischen Österreich-Ungarn und Rußland (Stuttgart-Berlin 21915), dessen ganze Schrift den Beweis liefern will, daß „Rußland mit seiner unersättlichen Erobe­rungssucht“ eine „eminente Gefahr“ bedeute, da es „die Kraft und Brutalität“ besitze, „um Europäer zu unterjochen“ (S. 8), und daß die gegen die Monarchie erhobenen Vorwürfe, das weitere Ausgreifen Rußlands am Balkan verhindert zu haben, ungerecht­fertigt seien. Rußland habe „die Balkanstaaten als seine künftige Beute“ aufgefaßt (S. 16). Es wollte „die Hilfe Österreich-Ungams für die Öffnung der Dardanellen in Anspruch nehmen, ohne doch irgendeine Gegenleistung zu bieten“ (S. 26). 27) Sutter Kreta-Krise 226f.

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