Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 33. (1980)
SCHUBERT, Peter: Der österreichisch-italienische Gegensatz im Spiegel der Militärattachéberichte aus Bern (1908–1915)
256 Peter Schubert Kriegseintritt zu pflegen und die Eidgenossenschaft davor zu schützen, daß sie dadurch in den Krieg hineingezogen werde59). Der Schweizer Gesandte beim Quirinal, Planta, nannte daraufhin die drei Kriegsgründe, die als einzige die Schweiz in den Krieg ziehen könnten: eine Neutralitätsverletzung, einen Angriff gegen die Integrität und den Versuch, die Schweiz auszuhun- gem60). Während nun Italien sofort versuchte, in diesen drei genannten Fragenkreisen jede Spannung zu vermeiden61), war die müitärische Vertretung der Donaumonarchie bestrebt, genau in diesen Punkten einzuhaken. Die Tessinfrage bot sich dabei aus innenpolitischen Gründen62) an: Einerseits war die wirtschaftliche Schwäche dieses Gebietes durch kriegsbedingte Probleme noch verstärkt worden63), andererseits fürchteten die Tessiner durch einen Sieg des Deutschen Reiches den Verlust des Nationalitätenfriedens in der Schweiz zugunsten eines deutschen Übergewichtes64). Den Österreichern gelang es, das bei den eidgenössischen Militärdienststellen vorhandene Mißtrauen weiter zu schüren65), diese zu Aktionen der Militärpolizei gegen Tessiner Bürger zu veranlassen66) und so die problematische Situation weiter zu verschärfen. In der Frage der Aushungerung der Schweiz waren für den Militärattache gleichfalls günstige Ansatzpunkte vorhanden. Da die Eidgenossenschaft hauptsächlich über Genua versorgt wurde und dessen Kapazität nicht ausreichte, um gleichzeitig den durch die italienischen Rüstungen verstärkten Bedarf des Königreiches und den der Eidgenossenschaft zu decken67), ergaben sich sehr rasch Komplikationen68). Das Berner Tagblatt forderte daher im März - ganz im Sinne des Militärattachös -, die deutschen Kohlenexporte nach Italien, die zu diesem Zeitpunkt rund 6000 Tonnen täglich ausmachten69), als Gegenmaßnahme gleichfalls zu behindern70); wobei hier noch anzumerken wäre, daß die Donaumonarchie z. B. ihre Holzexporte in die Schweiz bereits seit Monaten gedrosselt hatte, um einen Weitertransport nach Italien zu verhindern71), während gerade die Kohlenlieferungen des 59) KA Mil. Att. Bern 1915 Jänner 24/25, Res. Nr. 71. Presseresumé. 60) Ebenda 1915 Jänner 30, Res. Nr. 71. Presseresumé. 61) Etwa KA Mil. Att. Bern 1915 Jänner 26, Res. Nr. 74. 62) Jakob Ruchti Geschichte der Schweiz 1914-1919 (Bern 1928-30) 5ff. 63) Huber Drohte dem Tessin Gefahr? 49. 64) Ebenda 71. 65) Brosi Irredentismus 74; Huber Drohte dem Tessin Gefahr? 44ff, 85f. 66) Brosi Irredentismus 71, 74; KA Instruktionsbüro des k. u. k. Generalstabes an Mil. Att. Bem, 1915 Februar 21, Res. Nr. 167 — laut Exhibitenprotokoll. 67) KA Mil. Att. Bern 1914 Dezember 31, Res. Nr. 396, und 1915 Jänner 12, Res. Nr. 31. 68) Ebenda 1915 Februar 17/18, Res. Nr. 155, und 1915 Februar 24/25, Res. Nr. 188. 59) Ebenda 1915 März 25, Res. Nr. 290, und März 26/27, Res. Nr. 299. 70) Ebenda 1915 März 16, Res. Nr. 252. 71) Max Smolenski Österreich-Ungams wirtschaftliche Beziehungen zur Schweiz (Wien 1918) 23ff; Schubert Militürattaché 86, 459ff.