Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 33. (1980)
HEINDL, Waltraud: Aspekte der Ehescheidung in Wien um 1900. Grenzen und Möglichkeiten der Erforschung des Problems
240 Waltraud Heindl Ob aus diesem Ergebnis gleichzeitig geschlossen werden kann, daß die eheliche Treue einen parallelen Stellenwert bei Mann und Frau einnahm, erscheint doch sehr zweifelhaft. Die näheren Umstände dieser Scheidungsklagen beleuchten die Hintergründe besser: In den Angaben der Hälfte jener auf Scheidung klagenden Männer, die als Scheidungsgrund Ehebruch der Frau angaben, figuriert dieser als einziges Verschulden der Ehefrau, wobei als erschwerende Umstände etwa mehrmalige Eheverfehlungen, Ehebruch mit Verwandten oder die zweifelhafte Legitimität eines Kindes empfunden wurde79). Fast nie jedoch scheint Ehebruch als einziger Scheidungsgrund auf, wenn die Anklage von Frauen erhoben wurde. Selbst in jenen Fällen, wo er als dominanter Scheidungsgrund von den Klägerinnen bezeichnet wird, wird noch eine Reihe zusätzlicher Gründe für den Entschluß zur Ehescheidung genannt. Meistens ist die Sachlage jedoch umgekehrt: Sogar mehrmaliger Ehebruch und langjährige Konkubinate der Ehemänner - sehr oft als böswilliges Verlassen deklariert - spielen oftmals nur als zusätzliche Motive in den von Frauen initiierten Ehescheidungsklagen eine Rolle, in denen an erster Stelle andere Gründe als ausschlaggebende genannt werden80). Damit soll gesagt werden, daß die Verwendung des „klassischen“ Ehescheidungsgrunds Ehebruch für die Auflösung von Ehen offenbar in erster Linie den Männern zuzuordnen ist. Dies vermittelt aber auch gleichzeitig Aufschluß, - nicht, wie tugendhaft Mann und Frau in bezug auf die eheliche Treue waren, sondern wie unterschiedlich die eheliche Treue von den Geschlechtern für den Wert ihrer Ehe beurteilt wurde: Demnach war die Ehefrau der Unterschicht offensichtlich bereit, den Ehebruch ihres Mannes als Kavaliersdelikt zu klassifizieren, der Ehemann der Unterschicht reagierte auf den Ehebruch seiner Frau — wie es scheint — mit absoluter Intoleranz. Auch die Art und Weise, wie diese Klagen formal dargelegt werden, mögen signifikant für die spezifische Haltung von Mann und Frau zum Ehebruch sein. Während die Männer meistens kurz und prägnant die Anklage wegen heit: WLSTA Cg 3, 74/1901. — Die Hausfrau Marie W. klagte ihren Mann, den Buchdrucker Ignaz W., wegen folgender Gründe: boshaftes Verlassen, Ehebruch, unordentlicher Lebenswandel, wodurch das Vermögen der Klägerin verloren gegangen war. Als entscheidenden Anlaß zur Scheidungsklage bezeichnete sie jedoch die Zumutung, mit ihrem Ehemann und seiner Geliebten in einem Haushalt zu leben: WSTLA Cg 2, n. 204/1898. 79) Vgl. z. B. WLSTA Cg 1, n. 252/1904. 80) Vgl. z. B. die Ehescheidungsklage der „Parfumerieinhaberin“ Josefine F., welche ihren Mann, den Monteur Jakob F., beschuldigte, 1. vor dreieinhalb Jahren ein „intimes Verhältnis“ gehabt zu haben, 2. seit zwei Jahren ein solches Verhältnis mit einer „Person“ unterhalten zu haben, mit der er im gemeinsamen Haushalt gelebt hatte und schließlich von ihr auf die Zahlung von Alimenten für Zwülinge geklagt wurde, 3. derzeit wieder ein „intimes Verhältnis“ mit einer anderen Frau zu haben: WLSTA Cg 3, 36/1901. - Therese R. wiederum gab an, daß ihr Mann seit mindestens drei Jahren im „Ehebruch“ lebe und ein illegitimes Kind habe: WLSTA Cg 2, n. 945/1898. - Die Handarbeiterin Maria C. klagte ihren Mann, weil er sie vor zwölf Jahren verlassen und mit verschiedenen „anderen Frauenzimmern“ gelebt habe: WLSTA Cg 1, n. 633/1902; siehe auch die unter Anm. 78 zitierten Beispiele.