Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 33. (1980)

HEINDL, Waltraud: Aspekte der Ehescheidung in Wien um 1900. Grenzen und Möglichkeiten der Erforschung des Problems

Aspekte der Ehescheidung in Wien um 1900 241 Ehebruchs erheben, wird von den Frauen versucht, lang und ausführlich den unhaltbar gewordenen Zustand ihrer Ehe zu beweisen. Damit wurde von den Männern juristisch gesprochen das „Verschuldensprinzip“ in Geltung ge­bracht. Der Ehebruch als gravierende, nicht ungeschehen zu machende Ehe­verfehlung genügte, um die Trennung von der Ehepartnerin aus ihrem Ver­schulden zu beantragen, ohne den tatsächlichen Wert oder Unwert der Ehe weiter in Betracht zu ziehen. Die Verfahrensweise der Frauen dagegen spricht dafür, daß für sie vielmehr das „Zerrüttungsprinzip“ Geltung hatte. Hieraus gewisse sozialpsychologische Schlüsse zu ziehen, scheint berechtigt: In dem umständlichen Bemühen, die unhaltbaren Zustände einer Ehe zu skizzieren, manifestiert sich Entschuldigung — und damit schlechtes Gewis­sen. Dies läßt vermuten, daß um 1900 auch die Frau der sozialen Unter­schichten die Familie als ihren eigentlichen Funktionsbereich sah und sich in erster Linie durch sie definiert fühlte, obwohl sie durch ihre Berufstätigkeit genauso „der Welt“ und nicht nur „dem Haus“ angehörte wie der Mann. Wir finden bezüglich dieses spezifisch weiblichen Rollenverständnisses kaum ei­nen Unterschied zu dem der bürgerlichen Frau. Dies zeigt aber auch, daß die Unterschichten zumindest zum Teü die von Gesellschaft, Staat und Kirche allgemein vertretene Ehemoral akzeptiert hatten. Untersucht man die Akten nach der vorwiegenden Ehescheidungsmotivation der Frau, so finden wir eindeutig als den am häufigsten angegebenen Grund, der zur Anklageerhebung führte, „Nachstellungen, Mißhandlungen, Drohun­gen, Kränkungen und Beschimpfungen“. Die Ziffer, welche diesbezüglich in der Statistik angegeben wird, nämlich 590 von insgesamt 1959 Eheschei­dungsgründen81), ist ungemein hoch. Das Spektrum reichte, wie die Akten beweisen, von „gewöhnlichen“ Beschimpfungen bis zu lebensbedrohenden Tätlichkeiten. Mißhandlungen, gefährliche Nachstellungen und Drohungen durch die Ehefrau spielen als Ehescheidungsgründe des Mannes naturgemäß eine sehr untergeordnete Rolle, wenngleich es hin und wieder vorkam, daß beispielsweise eine Frau ihren Ehemann mit dem Messer bedrohte82). Be­schwerden über Beschimpfungen und Kränkungen durch die Ehefrau treten etwas häufiger auf. Mißhandlungen und bis zu einem gewissen Grad auch Beschimpfungen wa­ren Ehescheidungsgründe, die in erster Linie den Unterschichten zuzuordnen sind. In den im vorhandenen Aktenmaterial zwar wenig repräsentierten bür­gerlichen Scheidungen kommen tätliche Mißhandlungen als Motiv zur An­klageerhebung kaum vor, die oftzitierten Kränkungen waren subtilerer Na­tur83). Daß damit eine der negativsten Auswirkungen der streng patriarchali­schen Ehe, die offene Gewalttätigkeit, in erster Linie die Frau der Unter­81) Siehe Statistik S. 239. 82) WLSTA Cg 1, nn. 90/1904 und 281/1904. 83) So beklagte sich z. B. die Fabriksbesitzersgattin Wilhelmine K. über „Kränkun­gen durch Frivolitäten“, die sie von seiten ihres Mannes zu erleiden hatte; WLSTA Cg 1, n. 140/1903. Mitteilungen, Band 33 16

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