Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 33. (1980)
HEINDL, Waltraud: Aspekte der Ehescheidung in Wien um 1900. Grenzen und Möglichkeiten der Erforschung des Problems
Aspekte der Ehescheidung in Wien um 1900 237 mit der Meinung der Öffentlichkeit (oder des Gerichts) übereinzustimmen glaubte, so deutet dies auf gewisse in der Gesellschaft vertretene Haltungen und Wertungen hin, ob nun die Aussagen im einzelnen tatsächlich stimmten oder nicht. Weniger die standardisierten Ehescheidungsgründe an sich lassen fundierte historische Schlüsse zu, als vielmehr die Art, wie diese dargelegt wurden, sprachliche Formulierungen und Differenzen in der Verwendung der Ehescheidungsmotive nach Geschlechtern und Schichten. Bestimmte sich wiederholende Äußerungen von Enttäuschungen und Vorwürfen enthüllen zugleich Hoffnungen und Wünsche, die über den subjektiven Bewußtseinshorizont hinausgehen, gewisse überindividuelle Gemeinsamkeiten in den Wertvorstellungen über Ehe und Famüie aufdecken, sowie allgemein gängige Wunschvorstellungen von den Funktionen und dem Verhalten des Ehepartners zeigen, die als Bestandteile der „kollektiven Mentalität“ bezeichnet werden 71). Grundsätzlich erhebt sich in diesem Zusammenhang die Frage, inwieweit diese überindividuellen Gemeinsamkeiten wiederum Differenzen aufwiesen, die erstens geschlechts- oder zweitens schicht- oder gruppenbezogen waren. Es ist in Erinnerung zu rufen, daß wir es beim vorhegenden Material zum Großteil mit Scheidungsfähen der städtischen Unterschichten zu tun haben. Schichtbezogene Differenzen etwa zwischen dieser und den bürgerlichen Schichten herauszuarbeiten, wäre eine lohnende Aufgabe. Das vorliegende Aktenmaterial ist jedoch dafür nur bis zu einem gewissen Grad geeignet, da es zu wenige bürgerliche Ehescheidungsfälle enthält, um für diesen kurzen Zeitraum einen fundierten Vergleich herstellen zu können. Betrachten wir aber beispielsweise sprachliche Formulierungen in diesen Ehescheidungsprozessen textkritisch, so sind doch einige Schlüsse zu ziehen. Geschlechtsspezifische Reaktionen dagegen werden sowohl aus den Ehescheidungsmotiven der beiden Geschlechter als aus deren Beweisführung eher deutlich. Über die beim Bürgertum gültige Familienideologie und die im Mittelstand vertretenen Vorstellungen vom geschlechts- und eheadäquaten Verhalten von Mann und Frau, die streng geschlechtsspezifisch ausgerichtet waren, sind wir heute besser unterrichtet72). Karin Hausen hat die These aufgestellt, daß — bedingt 71) Karin Hausen meint dazu: „Die in einer bestimmten Gesellschaft jeweils gängigen Vorstellungen über das Wesen der Familie und das Wesen von Mann und Frau werden zwar von gesellschaftlichen Institutionen entscheidend beeinflußt, haben aber dennoch immer auch eine von diesen Institutionen unabhängige Existenz. Sie sind Bestandteil der kollektiven Mentalität und des kollektiven Verhaltens. Weniger die Androhung von Sanktionen für Fehlverhalten, als vielmehr dieses mehr oder weniger diffuse Bewußtsein dessen, was für die eigene soziale Bezugsgruppe normal ist, sorgt wahrscheinlich dafür, daß die Familienmitglieder ihr Verhalten und Handeln nicht an ihren spontanen Bedürfnissen, sondern daran orientieren, was familiengemäß und geschlechtsadäquat ist“: Karin Hausen Familie als Gegenstand Historischer Sozialwissenschaft. Bemerkungen zu einer Forschungsstrategie in Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft 1/2-3 (1975) 205f. 72) Hausen Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“ im besonderen 363ff, 374 und 382ff; vgl. auch Barbara Duden Das schöne Eigentum. Zur Herausbildung des