Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 33. (1980)

HEINDL, Waltraud: Aspekte der Ehescheidung in Wien um 1900. Grenzen und Möglichkeiten der Erforschung des Problems

238 Waltraud Heindl durch die arbeitsteiligen Funktionen von Mann und Frau auf den öffentli­chen und den häuslichen Bereich, die im 19. Jahrhundert praktisch immer mehr ausgeprägt wurden, - auch ideologisch einer Polarisierung der Ge­schlechtsmerkmale der Weg gebahnt wurde73), die schließlich dazu führte, daß allein die Frau und nicht mehr der Mann durch die Familie definiert wurde, eine Anschauung, die im Laufe des Jahrhunderts eher an Attraktion gewann als verlor. In diesem Zusammenhang erscheint die Frage wichtig, ob diese allgemein gängigen Vorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft auch Auswirkungen auf das Selbstverständnis von Mann und Frau und auf ihr Rollenverhalten in der Ehe der unteren Schichten hatten. Da bei diesen die arbeitsteiligen Funktionen von Mann und Frau nie so streng getrennt waren und auch um 1900, wie wir sahen, die Teilung in eine männliche und eine weibliche Sphäre praktisch nicht so streng vollzogen war, können wir auch theoretisch die Möglichkeit anderer Verhaltensmuster annehmen. Eine Be­leuchtung der Ehescheidungsmotive und der Darlegungsmodalitäten der Ehescheidungsklagen, wie sie von Mann und Frau differenziert oder auch gleicherweise vorgebracht wurden, könnte uns einer Antwort auf die Frage vielleicht näherbringen. In der Reihe der genannten gesetzlichen Ehescheidungsgründe figuriert der Ehebruch an erster Stelle, womit zweifelsohne der moralische Wert der ehe­lichen Treue - für beide Geschlechter - betont wird. Die Haltung von Mann und Frau zum Delikt Ehebruch als ehewidriges Verhalten des Partners cha­rakterisiert zugleich auch ihre Einstellung zur Ehemoral74). Verfahrensrechtlich galt und güt zum Teü heute noch der Ehebruch als „ab­soluter“ und daher klassisch zu nennender Scheidungsgrund. Diese fast me­chanische Koppelung von Scheidungsrecht und Verfehlung gegen die eheli­che Treue muß vom praktischen Eheprozeß her verstanden werden. Vor allem wenn man nach dem Prinzip des Verschuldens Recht sprach — und dies war bei den prozessuellen Ehescheidungen, mit denen wir es hier zu tun haben, ausschließlich der Fall -, bildete der Ehebruch unter anderen Verschuldens­gründen ein klares Tatbestandsmerkmal. Anders wird freilich der Ehebruch als Scheidungsgrund beurteilt, wenn als Kriterium für die Scheidung vor Ge­richt das Prinzip der Zerrüttung gilt75). bürgerlichen Frauenbildes an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert in Kursbuch 47 (Berlin, März 1977) 125—140. Neuerdings auch Bovenschen Die imaginierte Weib­lichkeit vor allem 19—43. 73) Hausen Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“ 368 und Duden Das schöne Eigentum 138 arbeiteten diese Eigenschaften, mit denen Mann und Frau iden­tifiziert wurden, folgendermaßen heraus. Für den Mann: außen, Energie, Festigkeit, Willenskraft, selbständig, erwerbend, gebend, Gewalt, Rationalität, Geist, Verstand, Wissen, Würde. Für die Frau: innen, Schwäche, Hingebung, Bescheidenheit, abhängig, bewahrend, empfangend, Liebe, Emotionalität, Gemüt, Empfindung, Religiosität, Lie­benswürdigkeit, Anmut. 74) Waltraud Heindl Ehebruch und Strafrecht. Zur bürgerlichen Moral in Öster­reich um 1900 in Das ewige Klischee. Zum Rollenbild und Selbstverständnis bei Män­nern und Frauen (im Druck). 75) Müller-Freienfels Ehe und Recht 135—144 und 318f.

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