Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 33. (1980)

HEINDL, Waltraud: Aspekte der Ehescheidung in Wien um 1900. Grenzen und Möglichkeiten der Erforschung des Problems

Aspekte der Ehescheidung in Wien um 1900 231 V Schon Englisch hat festgestellt, daß bei prozessuellen Ehescheidungen, also dort, wo das Lösungsbegehren einseitig gestellt wurde, es meistens die Frauen waren, die als Scheidungskläger auftraten. Englisch gibt die Zahl der Ehescheidungsklagen, die von Frauen erhoben wurden, mit dreimal häufiger an als jene, die von seiten des Mannes kamen51). Für die Jahre 1898-1905 stellt sich die Situation für Wien bei den nichtein­verständlichen Scheidungen folgendermaßen dar52): Die Ehescheidungsklagen wurden gestellt vom Mann 1898 20 1899 20 1900 13 1901 38 1902 34 1903 27 1904 25 1905 35 von der Frau von beiden Ehegatten 64 1 80­72 3 83 1 129 2 110 3 125 5 127 — Die Ehescheidungsakten bestätigen im großen und ganzen dieses Ergebnis. Die Untersuchungen an Hand dieser Dokumente zeigen, daß mehr als zwei Drittel, nämlich 68%53), der Ehescheidungsklagen aus den Jahren 1898—1905 von Frauen beantragt wurden. Diese Tatsache erscheint auf den ersten Blick überraschend54). Die allgemeinen patriarchalischen Familienverhältnisse, in denen der Frau die Rolle im Haus zugeteilt wurde, die nach dem Ideal, tüch­tige Hausfrauen und Mütter heranzubilden, ausgerichtete Mädchenerziehung — unterstützt von der herrschenden staatlichen Familienethik und einer strikten katholischen Ehemoral - ließen anderes erwarten. Allerdings konn­ten diese Vorbilder hauptsächlich nur in der bürgerlichen Familie realisiert werden. Die Akten der Ehescheidungsprozesse, die — wir rufen uns in Erin­nerung — zum Großteil Ehen der sozialen Unterschichten repräsentieren, be­51) Englisch Ehelösungsstatistik 486. 52) Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien für das Jahr 1902 140 und Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien für das Jahr 1905 50. 53) Zur Untersuchung der Akten siehe Anm. 40. 54) In Frankreich kamen sogar nach August Bebel vor der Jahrhundertwende auf 100 Ehescheidungsanträge 88 von Frauen: August Bebel Die Frau und der Sozialis­mus (Stuttgart 121892) 94. Heute wird die Zahl der Ehescheidungsbegehren, die von Frauen eingeleitet werden, in vielen europäischen und außereuropäischen Ländern ebenfalls mit ca. zwei Drittel bezeichnet: René König Ehe und Ehescheidung in Wör­terbuch der Soziologie, hg. von Wilhelm Bernsdorf 1 (Fischer Handbücher, Frankfurt/ Main 1974) 174. Erstaunlicherweise deckt sich jedoch auch die Zahl mit der von Nancy Cott angegebenen, die nach den Ehescheidungsakten von Massachusetts im 18. Jahrhundert 65% Frauen als Scheidungskläger nennt: Cott Eighteenth-Century Family 30.

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