Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 33. (1980)
HEINDL, Waltraud: Aspekte der Ehescheidung in Wien um 1900. Grenzen und Möglichkeiten der Erforschung des Problems
232 Waltraud Heindl weisen, wie wenig in diesen die für das Bürgertum typische Rollenverteilung, durch die die Frau mit dem Haus, der Mann mit „der Welt“ identifiziert wurden55), in der Praxis Geltung hatte. Es ist diesen Akten ein Aspekt zu entnehmen, der von den Statistiken völlig ignoriert wurde: Ein erstaunlich hoher Prozentsatz, nämlich 56,3% jener Frauen, welche die Ehescheidung beantragten, übten nach eigenen Angaben vor Gericht einen selbständigen Beruf „außer Haus“ aus. Allerdings verliefen sowohl die von Frauen stammenden Scheidungsklagen als auch die Berufstätigkeit der Frau parallel zum sozialen Gefälle: Unter den Ehescheidungsklägern der Arbeiter finden wir 72,0% Frauen, von diesen übten 67,3%, also mehr als zwei Drittel, einen Beruf aus; unter den Ehescheidungsklagen! des unteren Mittelstandes traten 68,7% Frauen als Kläger auf, davon waren 57,6% berufstätig; die Scheidungsklagen des Mittelstandes weisen 68,3% auf, die von seiten der Frauen gestellt wurden, davon waren nur 17,9% berufstätig. Die meisten der Scheidungsklägerinnen, die aus dem Arbeiterstand und dem kleinbürgerlichen Mittelstand kamen, waren in ungelernten und lohnabhängigen Berufen tätig. Wir finden beispielsweise die Berufe: Taglöhnerinnen, Hilfsarbeiterinnen, Fabrik- und Handarbeiterinnen, Bedienerinnen, Schuldienerinnen, Krankenwärterinnen, Näherinnen, Schneiderinnen, Köchinnen, Verkäuferinnen. Die mittelständischen Scheidungsklägerinnen waren zumeist selbstständige Gewerbetreibende und Fabrikbesitzerinnen. Moderne historische Interpretationsversuche neigen im allgemeinen dazu, den Stellenwert der Berufsarbeit der Frau und ihres Erwerbs als Katalysator für die Umwälzungen, die sich im 20. Jahrhundert in bezug auf die innerfa- miliale Rolle der Frau und ihres Selbstverständnisses vollzogen, sehr hoch zu veranschlagen56). Die Frage, inwieweit die Berufstätigkeit der Frau als ei55) Karin Hausen Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“ - Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben in Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, hg. von Werner Conze (= Industrielle Welt. Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte 21, Stuttgart 1976) vor allem 383—390. Neuerdings auch Silvia Bovenschen Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen (edition suhrkamp 921, Frankfurt 1979) 9-59. 56) Kritisch dazu Joan W. Scott und Louise Tilly Women’s work and the Family in Nineteenth-Century Europe in Comparative Studies in Society and History. An international Quarterly 17/1 (1975) 36-63. — In Zusammenhang mit dieser Diskussion erscheint es interessant, daß die auch um 1900 nicht unbedeutende Berufstätigkeit der Frau von den Statistiken vollständig ignoriert wurde - von Englisch mit der Begründung, „daß ein selbständiger Beruf [der Frau] nur selten in Frage komme“: Englisch Ehelösungsstatistik 472. Es ist kaum anzunehmen, daß Englisch als Statistiker die so häufige Berufsarbeit der Frau der „unbemittelten Klassen“ verborgen bleiben konnte. Daß er sie - bewußt oder unbewußt - nicht in den Kontext seiner sonst sehr sorgfältig abgewogenen Argumente miteinbezog, beweist, in welchem Maß Englisch seine Arbeit auf seinen eigenen Stand, nämlich den der bürgerlichen Mittelschicht, ausrichtete, der der Berufsarbeit der Frau stärksten Widerstand entgegensetzte. Vgl. dazu die zeitgenössischen Ausführungen von J. Huemer Der gegenwärtige Stand des höheren Mädchenschulwesens in Österreich in österreichische Rundschau 3/3 (1905) 99-106.